Galerie Hubert Winter

Nancy Haynes
a madeleine dipped in ink
24. Juni – 3. September 2022
Ich wuchs an einem Ort auf, an dem Furcht noch einen sehr großen Anteil meines Lebens ausmachte.
Zur Ergänzung unseres sehr aristotelischen Gefühls des Staunens über das Wunder der Biodiversität muss etwas von jener
Ehrfurcht wiedererweckt werden.
Die letzten Zeilen. In: Dipesh Chakrabarty, Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter. Dt. v. Ch. Pries. Berlin, Suhrkamp, 2021

Galerie Hubert Winter freut sich, eine Ausstellung mit neuen Arbeiten der in New York lebenden Malerin Nancy Haynes aus der Serie library zu präsentieren. Unter dem Titel a madeleine dipped in ink zeigt sie in ihrer fünften Ausstellung in der Galerie Abstraktionen, die nach einer Reihe von Autor*innen verschiedener Sprachen benannt sind, darunter Romanautor*innen und Dichter*innen, Essayist*innen und Theoretiker*innen. Persönlichkeiten wie Toni Morrison, Samuel Beckett, Italo Calvino und Lucy Lippard, um nur einige zu nennen, prägen Haynes eigene tägliche Praxis des Lesens und Denkens. Trotz ihres Titels sind diese Gemälde jedoch nicht als Porträts gedacht; vielmehr legen sie Rechenschaft darüber ab, „what it is that makes us what we become“, wie die Künstlerin sagt.

Diese neue Serie setzt ihre Erkundung literarischer Figuren und Tropen durch die Brille des abstrakten Formalismus fort, was bereits in ihrer rezenteren Serie to the poets zu sehen war, die 2017 in der Galerie Hubert Winter ausgestellt wurde. Mit diesen Gemälden, die proportional einem aufgeschlagenen Buch ähneln, erweitert Haynes ihre konzeptuelle Untersuchung gemalter Illusionen von Raum, die durch Licht und Farbe wiedergegeben wird. Die Sfumato-Technik, die aus mehreren lasierend aufgetragenen Schichten von Pigmenten und Bindemittel besteht, erzeugt eine Reihe von maritimen Grüntönen und changierenden Schwarz- und Weißabstufungen. Frei von jeglicher Bezeichnung erscheinen diese Gemälde zunächst wie leere Seiten, doch bei näherer Betrachtung ähneln sie eher einem Palimpsest, in dem Spuren von Auslöschung und Absenz eine komplexe Beziehung zwischen Oberfläche und Tiefe herstellen. Die Möglichkeit, dass diese einander überlagernden Farbschichten von der Trope des Memento mori heimgesucht werden, scheint für Haynes Fragestellung, wie man der Vergänglichkeit ein Denkmal setzen kann, dringend notwendig. Die flüchtigen Gedanken, die die Landschaft des Geistes berühren und durchqueren, ertrinken wie die einzelnen Striche auf den Oberflächen dieser Gemälde in einem Meer ihrer selbst. In diesem Sinne beschreibt Haynes, dass diese Bilder vom Erinnern handeln — nicht von Erinnerungen — nicht von dem Ereignis, sondern von dem Prozess.

Zu Beginn von À la recherche du temps perdu schreibt Proust, dessen Moment der unwillkürlichen Erinnerung im Titel der Ausstellung anklingt: „Vielleicht ist den Dingen um uns her die Unbeweglichkeit nur aufgezwungen durch unsere Gewissheit, dass sie sie selber seien und nichts anderes, durch die Unbeweglichkeit unserer Vorstellung von ihnen.“ Haynes Gemälde lassen die Beweglichkeit entstehen, die die Möglichkeit einer Vielzahl von Vorstellungen hervorruft. Indem sie abstrakte Momente aufgreifen, die sich scheinbar in Bewegung befinden, können diese Werke gleichzeitig für Porträts, Seiten oder den Geist stehen. In einem anderen Sinne evozieren diese Gemälde das Vergehen der Zeit, nicht als linearer Verlauf von Ereignissen, sondern als kleinste Einheit ihrer Dauer. Denn um sich zu verändern oder zu bewegen, muss die Zeit vergehen. Während die Farben ineinander übergehen, auftauchen und in ein Spektrum von Farbtönen eintauchen, verschmelzen Haynes Arbeitsprozesse und konzeptuelles Ethos, um die illusorische Natur der Zeit und ihrer Beständigkeit selbst in ihrer Abwesenheit zu verdeutlichen. Die Widmung dieser Gemälde an Autor*innen mag auf den ersten Blick unpassend erscheinen, bis wir uns daran erinnern, dass es nicht immer die spezifische Sprache dieser Autor*innen ist, die uns im Gedächtnis bleibt, sondern das Gefühl, das sie hervorrufen. In dieser Serie schwingt die reichhaltige Leere in Nancy Haynes Bildern zusammen mit dem, was die Psychoanalytikerin Melanie Klein als unser longing for an understanding without words” beschrieb.

Nancy Haynes (geb. 1947) ist in wichtigen amerikanischen und europäischen Museen und Privatsammlungen vertreten. Die Liste ist umfangreich und umfasst Gemälde im Metropolitan Museum of Art und Brooklyn Museum in New York, im Museum of Fine Arts in Houston, Bonnefantenmuseum in Maastricht, Gemeentemuseum in Den Haag und anderen. Arbeiten auf Papier befinden sich, um nur einige zu nennen, in der Sammlung des MoMA und des Whitney Museum of American Art in New York, im Harvard Art Museum in Cambridge und der National Gallery of Art in Washington. Sie lebt und arbeitet in New York, NY, und im Huerfano Valley, CO.

Text by Miciah Hussey