Galerie Hubert Winter

Mirella Bentivoglio
24. Februar – 25. März 2023
Die Welt geht weder nach rechts noch nach links. Sie dreht sich um sich selbst, wie eh und je, mit regelmäßigen Sonnen- und Mondfinsternissen.
Die letzten Zeilen. In: Emilio Lussu, Marsch auf Rom und Umgebung. Ein Bericht. Dt. v. C. Gatterer. Bozen, Folio, 2022

Die Galerie Hubert Winter freut sich eine Ausstellung zu präsentieren, die sich dem Werk von Mirella Bentivoglio widmet und in Zusammenarbeit mit dem Archivio Mirella Bentivoglio, unter der Leitung ihrer Töchter Ilaria und Leonetta Bentivoglio, entstanden ist. Es handelt sich um die erste Einzelausstellung Bentivoglios in der Galerie und generell um die erste in Österreich nach ihrem Tod 2017 in Rom. Die Ausstellung steht damit im Kontext einer rezenten, lebendigen Rezeption des Werks der Künstlerin, abzulesen u.a. an Ausstellungen im Rahmen der Venedig Biennale 2022, in der Fondazione Antonio dalle Nogare (2022/23) und im Anschluss an ihre große Solopräsentation in der Galleria Nazionale in Rom (2022/23). Ihr Werk ist in zahlreichen Sammlungen vertreten u.a.: MACRO Rom, der Galleria Nazionale di Roma, den Uffizien, Getty Institute, MAC Sāo Paolo, MoMA New York.

MIRELLA BENTIVOGLIO...
...contro l'alfabeto – ein ungeordnetes ABC der Künstlerin.

… tra le lingue / zwischen den Sprachen. Mirella Bentivoglio wurde am 28. März 1922 in Klagenfurt, in Österreich geboren. Bereits früh erhielt sie eine mehrsprachige Ausbildung, wuchs während des zweiten Weltkrieges umgeben von der Bibliothek ihrer Eltern auf und studierte in der deutschsprachigen Schweiz und in England. Sie erhielt Stipendien vom Salzburger Seminar für America Studies und vom Getty Institute in Los Angeles. Im Jahr 1968 erhielt sie die Lehrbefugnis für Ästhetik und Kunstgeschichte an italienischen Akademien.

… e l'alchimia delle lettere / und die Alchemie der Buchstaben. Bis Mitte der 1960er Jahre Malerin und Autorin von Gedichtbänden in italienischer und englischer Sprache, brachte sie später ihr Interesse an der Kombination von Wort und Bild zum Ausdruck. Die Begegnung mit der Bewegung Konkreter Poesie rund um die brasilianische Gruppe Noigandres, andere Strömungen verbalvisueller Kunst, wie die poesia visiva in den 1970er Jahren in Italien, und deren Ursprünge in den Avantgarden des 20. Jahrhunderts, beeinflussten Bentivoglios Werk. Die Befreiung der Worte von Bedeutung und grammatikalischer Syntax, von Futurismus und Dadaismus initiiert, öffneten für Bentivoglio ein Feld des Experimentierens. Wonach ich immer suche, ist ‚Koinzidenz‘.

… e la creatività della natura / und die Kreativität der Natur. Von der Praxis der Konkreten und der Visuellen Poesie, die ihren Eintritt in eine Sphäre des Experimentierens markierten, erweiterte sie ihren Ausdruck um eine markante Form der Objektpoesie. Arbeiten aus Stein oder Marmor greifen wiederholt Symbole wie das Buch, das Ei und die symbolische Dichotomie der Buchstaben E und O auf, des italienischen Konnektors und Disjunktors (e kann als “und” übersetzt werden und o als “oder”) bzw. fungiert das O bei Bentivoglio auch als Ikon für das Ei, sprich als Ursprungssymbol. Ich habe ein bestimmtes Medium gefunden, das mir für meine poetische Welt sehr geeignet erscheint. Es ist Stein, die Kruste unseres Planeten. Die Adern des Steins sind die Schriftzüge der Erde. Ab den späten 1970er Jahren und darüber hinaus erforschte sie nach und nach die das performative Potenzial von Sprache und deren Wechselwirkung mit der Umwelt, indem sie große symbolische Strukturen sprachlicher Matrix im öffentlichen Raum errichtete, was auch von ihrer Auseinandersetzung mit den Phänomenen Monument und Erinnerung zeugt.

… come curatrice e critica / als Kuratorin und Kritikerin. Für Mirella Bentivoglio waren Kuration und Kritik Teil ihrer umfassenden Praxis: Ich trenne meine so genannte kreative Arbeit nicht von meinem kritischen Denken. Ihre Bedeutung als Kuratorin darf dabei nicht unterschätzt werden. Exemplarisch ist das an der von ihr kuratierten Ausstellung Materializzazione del linguaggio festzumachen, eine Ausstellung als Teil der 38. Biennale von Venedig 1978. Bentivoglio präsentierte ausschließlich die Werke und Geschichten weiblicher Protagonistinnen, die den Monolog der patriarchalen Kultur unterbrachen und es schließlich schafften, sich zu etablieren. In dieser Schlüsselphase für die italienische Gesellschaft und Kunst des 20. Jahrhunderts, die retrospektiv im Jahr 1978 kulminierte – Carla Lonzi’s Taci, anzi parla (Das Tagebuch einer Feministin) erschien, die Rivolta femminile formierte sich als Gruppe, Verlag und veröffentlichte ein Manifest – nahm Bentivoglio eine wichtige Rolle in der Verbreitung feministischen Denkens und der Manifestation eines neuen, kritischen Bewusstseins ein, das viele Künstlerinnen, Kuratorinnen und Kunsthistorikerinnen ermutigte, ihre Rolle in Gesellschaft, Kunst und im Leben zu überdenken. Nichtsdestotrotz blieb sie immer auch Individualistin, die sich nicht mit einer Domäne oder Kategorisierung weiblicher Kunst zufriedengab: […] mein tiefes Bedürfnis, Kategorien zu entkommen und mir immer die Autonomie der Mehrdeutigkeit zu geben. In ständiger Instabilität meine dynamische Identität zu finden.

… poetessa della forma / Poetin der Form. Das Werk von Mirella Bentivoglio ist von einer Pluralität an Ausdrucksformen geprägt. Diese entspringen laut der Künstlerin selbst keinen Gegensätzlichkeiten—die Übergänge von der Malerei zur Poesie und dem Spiel mit Worten zur Skulptur verlaufen entlang eines Kontinuums. Es hat lediglich eine Art Erweiterung stattgefunden, nicht des Werks selbst, sondern der Inspirationsquelle, und an anderer Stelle sagt sie: In meiner Arbeit gibt es ein ständiges Hin und Her zwischen Bedeutung und Form. [...] Wenn ich meine verschiedenen Arbeiten in einem Wort zusammenfassen müsste, würde ich das Wort „Poesie“ wählen.*


*Sämtliche kursiv gesetzten Stellen sind Zitate von Mirella Bentivoglio, einem Interview zwischen ihr und Benjamin Kersten entnommen, erschienen in: Frances K. Pohl (Hg.), Pages: Mirella Bentivoglio, Selected Works 1966–2012, Pomona College Museum of Art, 2015.