Galerie Hubert Winter

Water Being Washed Away
Curated by Alessandro Rabottini.
10. September – 22. Oktober 2022
In the universal order to which humanity aspires, neither white nor black has the slightest right to exist. Humanity, as such, is colorless.
Die letzten Zeilen. In: Alain Badiou, Black. The brilliance of a non-color. Eng. v. S. Spitzer. Cambridge, Polity Press, 2017.

Giorgio Andreotta Calò. Latifa Echakhch. Phillip Lai. Basir Mahmood. Claudia Pagès Rabal.

Die Gruppenausstellung Water Being Washed Away versammelt Arbeiten, deren Dynamiken und Abbildungen flüssiger Durchdringung eine politische und existentielle Metaphorik hervorrufen. Verschiedenste Formen materieller und symbolischer Erosion erzeugen einen Dialog zwischen den Künstler*innen. Deren Blick auf physische, kulturelle und biographische Begriffe von Distanz hinterfragt und differenziert die Vorstellung, dass ästhetische und politische Abstammung dauerhafte Begrifflichkeiten darstellen, die in Zeit und Verhalten eingeschrieben sind.

Anhand der unterschiedlichen Bezüge zu Flüssigkeiten in den Arbeiten von Giorgio Andreotta Calò, Latifa Echakhch, Phillip Lai, Basir Mahmood und Claudia Pagès Rabal infiltrieren diese kulturelle und ökonomische Strukturen alltäglicher Objekte mitsamt unserer psychologischen Wahrnehmung. Indem die Ausstellung diese Arbeiten in unmittelbare Nähe zueinander setzt, zielt sie darauf ab, die Betrachter*innen in eine Landschaft assoziativer Brüchigkeit zwischen Permanenz und Verfall, Zugehörigkeit und Entfremdung zu führen, wobei sie oftmals die Unterscheidung zwischen Authentischem und Fabriziertem zusammenbrechen lässt.

Die individuellen Methodiken der Künstler*innen provozieren eine poröse Zirkulation und Verteilung von Material und Bedeutung, die Momente und Fragmente der wechselseitigen Interpretation zwischen Ost und West, Süd und Nord konsumiert und transformiert.

Die französisch-marokkanische Künstlerin Latifa Echakhch (geb. 1974, lebt zwischen Vevey und Martigny) verleiht ihren räumlichen und architektonischen Interventionen eine persönliche Dimension und hinterfragt dabei oft Vorstellungen von Identität und Nationalität in einem globalisierten Kontext. Für diese Ausstellung rekonstruierte die Künstlerin die ortsspezifische Installation Gaya (E102) Horizon, die ursprünglich 2010 als subtile Intervention konzipiert wurde, die die Architektur über ihre kaum wahrnehmbare visuelle Wirkung hinaus infiltriert. Die Arbeit besteht aus einer horizontalen gelben Linie, die sich über alle Wände der Galerie erstreckt. Sie wird gezeichnet aus einer billigen, geschmacksneutralen Lebensmittelfarbe, die in Nordafrika üblicherweise verwendet wird, um den teureren Safran visuell zu simulieren. Mit Wasser verdünnt erzeugt die Farbe ein minimalistisches Herabtropfen, das den verbleibenden Horizont des kulturellen Herkunftskontextes der Künstlerin darstellt. In seiner hieratischen Einfachheit setzt Gaya (E102) Horizon ein synthetisches Material ein, dessen Funktion darin besteht, Essen visuell aufzuwerten und dabei eine Vielzahl von Bedeutungen zu suggerieren: Die Arbeit hinterfragt Konzepte von Authentizität und Zugehörigkeit und verdeutlicht zugleich das Ausmaß, in dem das Unsichtbare und -hörbare Gesellschaften durchdringt. Indem sich das Werk durch den gesamten Ausstellungsraum zieht, fungiert es auch als erodierte Grundlage für die Erzählung der Ausstellung: Wenn Safran tatsächlich eine kulturelle Referenz ist, die im Laufe der Zeit viele andere Kulturen durchdrang, durchdringt die Arbeit selbst die Haut der Architektur. Denn sobald die Ausstellung zu Ende ist und die Wände neu gestrichen werden, bleibt sie dort als Geheimnis bewahrt.

Die Skulpturen des in London lebenden Künstlers Phillip Lai (geb. 1969, Kuala Lumpur), der sich für Prozesse der materiellen und formalen Abstraktion interessiert, ähneln allgegenwärtigen, industriellen Objekten, die er zwar gefunden oder gekauft haben könnte, aber eigentlich rekonstruiert. Alltagsgegenstände wie Behälter und Gefäße werden in einem skulpturalen Prozess analytisch seziert, um sie schließlich in ihrer komplexen, stillen Selbstverständlichkeit wiederherzustellen. Lai arbeitet mit partiellen Fiktionalisierungen der ausgewählten Objekte; dieser Vorgang wird am deutlichsten in ihrer oft rätselhaften Assemblage oder morphologischen Verzerrung. Expulsions (2019) ist eine Serie von Stahlrohren, die miteinander verbunden sind und an deren Spitze rote, weiße und leuchtend orange Flaschen hängen. Letztere sind akribisch und von Hand aus durchscheinendem, zerbrechlichem Polyurethanharz gegossen und ähneln auf zweideutige Weise Druckbehältern wie Sauerstoffflaschen zum Tauchen oder Feuerlöschern. In ihrem Wesen und ihrer Positionierung suggerieren diese Flaschen diverse Erzählungen von Verlust und Aufbewahrung: ein Gefühl von latenter Alarmbereitschaft, eine kollektive Sammlung von Vorkehrungen und das wachsame Warten Vieler.

Claudia Pagès Rabal (geb. 1990, Spanien) verbindet in einer multimedialen Praxis oft persönliche Erinnerungen mit einem umfassenderen Interesse an ökologischen und soziopolitischen Themen. Ventiladors, petxines (sur) (2022) ist eine räumliche und skulpturale Intervention, die in ihrem diskreten Minimalismus an eine scheinbare Funktionalität grenzt. Eine Reihe von Ventilatoren ist im Galerieraum verteilt: Sie wurden von Pagès Rabal angepasst, indem die Deckel mit spiralförmigen Formen verschweißt und anschließend mit Muscheln verkrustet wurden, die im Laufe der Jahre an den Stränden von Tarragona gesammelt worden waren. Jeder Ventilator ist mit einem System ausgestattet, das verschiedene Aromen verströmt: Bougainvillea, Oleander, Zement und feuchter Sand. Zusammen evozieren sie die Mittelmeerküste sowie diverse Implikationen, die Reisedestinationen und jene maritime Landschaft mit sich bringen: das Meer als Freizeitraum, als Netzwerk für den Warenaustausch, als Horizont für Konflikte, Hoffnungen und Migrationen. Mit Muscheln, die von den zunehmend ausgewaschenen spanischen Küsten verschwinden, komponiert Pagès Rabal eine olfaktorische und akustische Landschaft, die ebenso entmaterialisiert ist wie die Seewege und durchdringend wie die immateriellen Kräfte, die Erinnerungen und Existenzen formen.

In einer poetischen Parallele entwirft der italienische Künstler Giorgio Andreotta Calò (geb. 1979, lebt in Italien und den Niederlanden) konzeptuelle Landschaften aus den Relikten von Naturelementen, Architekturen und Städten, die deren schlummernde oder imaginäre Aspekte freilegen. Seine Arbeit Carotaggio (Venezia) (2014) besteht aus einer Reihe von vertikalen Bohrkernen aus der venezianischen Lagune, in welcher der Künstler geboren wurde. Die Bohrungen, die er durchführen ließ, erreichten die “Caranto” genannte Schicht, die sich in neun Metern Tiefe befindet und die den Übergang zwischen Pleistozän und Holozän innerhalb der venezianischen Schichtenfolge darstellt. Diese Schicht trennt das Wasser der Lagune vom Süßwasseruntergrund und fungiert als Rückgrat der schwimmenden Stadt, deren Monumentalität auf der Dynamik täglicher Infiltration beruht. Mit ihrer horizontalen Anordnung aus soliden und doch fragilen Pfählen bildet die Installation eine trockene Insel, die in Form und Material für die abgeschliffenen Fundamente steht, auf denen Venedig gebaut ist; ein erodierter Horizont aus angesammelten Substanzen und dislozierten Zeitfragmenten, die Tausende von Jahren geologischer und urbaner Transformationen manifestieren.

Die Ausstellung kulminiert mit einer Arbeit, die Anstoß für das kuratorische Konzept gab – Ahmedpur East (2022) des pakistanischen Künstlers Basir Mahmood (geb. 1985), der mittels Video und Fotografie ästhetische und politische Aspekte unseres alltäglichen Lebens erforscht. Die beinahe forensische, aber dennoch melancholische Qualität seiner Videoarbeiten wird durch den Prozess ihrer Entstehung verstärkt, da der Künstler häufig von seinem derzeitigen Wohnsitz in Amsterdam aus Anweisungen an Filmteams in Lahore schickt, die das gefilmte Material schneiden. In Ahmedpur Eastist eine braune Flüssigkeit zu sehen, die entweder aus einem Schlauch strömt oder behutsam aus einer Vase in ein Tablett gegossen wird. Die kontemplative und gleichzeitig bedrohliche Arbeit versucht, ein Denkmal für die 219 Menschen zu schaffen, die von einem Feuerball verschlungen, ums Leben kamen, als sie versuchten, den ausgelaufenen Treibstoff eines verunglückten Öltanks in Ahmedpur East aufzufangen. Mahmood bat eine Gruppe von Tankstellenarbeitern, eine Reihe von Haushaltsbehältern (ähnlich zu jenen, die von den Opfern benutzt worden waren) zu füllen. Sie wurden auf einer Baustelle gefilmt, um eine wortlose Elegie aus ehrwürdigen Gesten und fließenden Klängen zu komponieren. Die Dynamik der Flüssigkeiten und die abwechselnde Inszenierung von Verteilung und Ausgießen sublimieren die Gewalt des Ereignisses und bauen gleichzeitig die Spannung eines nüchternen Gedenkens auf.

Alessandro Rabottini in Kollaboration mit Bianca Stoppani