Galerie Hubert Winter

HÖRST DU DAS GRAS WACHSEN? Birgit Jürgenssen & Meret Oppenheim.
Curated by Heike Eipeldauer.
19. Jänner – 1. März 2024
Wenn du deine Briefe zur Post bringst, trag sie in der Hand. Wenn du sie in deine Tasche steckst, wirst du einen langen Spaziergang machen (ich rede aus Erfahrung) zweimal am Postamt vorbeilaufen, beim Ausgehen und bei der Rückkehr, und, wenn du heimkommst, werden sie immer noch in deiner Tasche sein.
Die letzten Zeilen. In: Lewis Carroll, Briefe an kleine Mädchen. Dt. und hrsg. von Klaus Reichert. Frankfurt/Main, Insel, 1994

Edelfuchs im Morgenrot / Spinnt sein Netz im Abendrot / Schädlich ist der Widerschein /
Schädlich sind die Nebenmotten / Ohne sie kann nichts gedeihn.
(Meret Oppenheim, 1934)[1]

Mit HÖRST DU DAS GRAS WACHSEN? präsentiert die Galerie Hubert Winter eine bislang beispiellose Begegnung von zwei wegweisenden Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts: Birgit Jürgenssen (1949–2003) und Meret Oppenheim (1913–1985). Die Ausstellung reflektiert die Experimentierfreudigkeit und Multidisziplinarität im emanzipatorischen Œuvre der beiden Künstlerinnen und zeigt wechselseitige Resonanzen auf: Inszenierungen im Lichte von Maskerade, Verkleidung und „Tierwerdung“, die die Verdinglichung und Fetischisierung des weiblichen Körpers ironisch unterlaufen; den subversiv-humorvollen Umgang mit Sprache; die Auseinandersetzung mit den Wandlungsprozessen der Natur, verbunden mit einem tiefen ökologischen Bewusstsein; die elementare Neugierde gegenüber Metamorphosen und ihrem grenzüberschreitenden Potential.

HÖRST DU DAS GRAS WACHSEN? ist der Titel einer frühen Collage Birgit Jürgenssens, in der sie Naturmaterialien und disparate fotografische Bildquellen zu einem befremdlichen Mischwesen zusammensetzt, wobei die einzelnen Elemente Verbindungen eingehen ohne gänzlich ineinander aufzugehen. Die offengelegten Bild-Nähte der solcherart als Konstruktion ausgewiesenen Collage (die Künstlerin selbst blickt aktiv aus den Augenhöhlen der Maske) finden ihren formalen Widerhall in den Formbildungen und -brüchen der Natur – ob als Lebenslinien der menschlichen Hand, als Falten, Risse, gewachsene Verästelungen oder Sedimente: alles scheint mit allem in Beziehung zu stehen (eine Überzeugung, die auch die amerikanische Malerin Georgia O’Keeffe (1887–1986) teilte, die zweimal im Bild erscheint).

Die hier eingesetzten künstlerischen Strategien von Entfremdung, Kombinatorik, Hybridisierung und Verwandlung zeugen von Jürgenssens Auseinandersetzung mit dem französischen Surrealismus, den sie als „inspirative Poesie“ früh für sich entdeckte. Insbesondere war es die zwischen 1933 und 1936 künstlerisch im Umfeld der Surrealist*innen in Paris sozialisierte Meret Oppenheim, die eine wichtige Identifikationsfigur für Jürgenssen darstellte. Ihr widmete Jürgenssen 1981 die markante Inszenierung Selbst mit Fellchen (1974/1977), in der das Fuchsfell mehr als nur modisches Accessoire zum anverwandelten Teil des eigenen Gesichts wird und damit auf unheimliche Weise die Körpergrenzen infrage stellt: „Für Meret Oppenheim in Verehrung. Birgit Jürgenssen“.

Oppenheims Maxime „Die Freiheit wird einem nicht gegeben, man muss sie nehmen“ war ihr Vermächtnis an eine ganze Generation nachfolgender Künstlerinnen, die sie für ihre souveräne Eigenständigkeit, ihre transformative Identität und ihre Imaginationsfähigkeit schätzten, mit der sie den surrealistischen Ansätzen ihrer Kollegen eine ironisch-kommentierende Wendung verlieh. Gegen ihre Vereinnahmung als „feministische“ Künstlerin, etwa in Ausstellungen, die ausschließlich Künstlerinnen gewidmet waren wie die von Valie Export 1975 in der Wiener Galerie nächst St. Stephan kuratierte Ausstellung MAGNA. Feminismus: Kunst und Kreativität, wehrte sich Oppenheim jedoch mit der für sie grundlegenden „Androgynität des Geistes“. Carl Gustav Jungs (und weniger Sigmund Freuds) Theorien, insbesondere jene zur „seelischen Gegengeschlechtlichkeit“ lieferten den Hintergrund, vor dem Oppenheim Androgynität zu einem emanzipatorischen Modell entwickeln konnte, mit dem sie Vorstellungen normierter Geschlechteridentität und damit korrespondierende Rollenzuweisungen und Macht- und Gewaltmechanismen infrage stellte. Um die Erfahrungen der nächsten Künstlerinnengeneration reicher, antwortete Jürgenssen 2002, ein Jahr vor ihrem Tod, auf die Frage, ob sie sich als feministische Künstlerin bezeichnen würde, „Im Sinne der Bewusstwerdung, Analyse und Dekonstruktion von herrschenden Theorien und Repräsentationssystemen: ja.“

Oppenheims Pelztasse (1936), die „aus Freude am Paradoxen, am Aggressiven“ entstand und die Fetischisierung des Pelzes als Zeichen für die „animalische“ weibliche Sexualität mittels schockartiger Paarung mit einem Gebrauchsgegenstand ironisch zuspitzt, wurde spätestens 1968, also auf dem Höhepunkt der Protestbewegungen wie auch im Jahr der Entstehung von Jürgenssens Collage, im Rahmen der MoMA-Ausstellung Dada, Surrealism, and Their Heritage als Inbegriff surrealistischer Objektkunst kanonisiert (gemeinsam mit ihrem Schuhobjekt Ma gouvernante – my nurse – mein Kindermädchen, 1936). Was für Meret Oppenheim die Pelztasse war – ein bald zum Ballast gewordenes „Markenzeichen“, das den Blick auf ihr übriges Œuvre verstellte und das sie 1970 als billig-sentimentales Kitschobjekt vervielfältigte – war für Birgit Jürgenssen das Schuhwerk, in dem sie in Anknüpfung an Oppenheim den weiblichen Fetischismus als Waffe einsetzte.

Oppenheims wie Jürgenssens unbeirrte Arbeit an den Übergängen vermeintlich getrennter Sphären – zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem, zwischen Natur und Kultur, dem Organischen und dem Artifiziellen, zwischen Traum und Wirklichkeit – bedeutete folgerichtig auch, sich über einen homogenen, wieder erkennbaren „signature style“, über Mediengrenzen oder herkömmliche kunsthistorische Kategorisierungen hinwegzusetzen – eine Qualität, die bei beiden Künstlerinnen jedoch erst posthum geschätzt werden konnte. HÖRST DU DAS GRAS WACHSEN? könnte in diesem Sinne als Appell verstanden werden, unserer Welt mit gesteigerter Sensibilität und Aufmerksamkeit zu begegnen, mehr wahrzunehmen, Verbindungen aufzuspüren oder neue Beziehungen einzugehen, die die Grenzen zwischen Selbst und Anderem infrage stellen – ein Ansatz, der von Oppenheim und Jürgenssen verfolgt wurde, noch ehe der Begriff „Ökofeminismus“ in den 1970er-Jahren geprägt wurde und lange bevor „Kollaboration“ und „Kontamination“ als Modelle gesellschaftlichen Handelns und möglicher Ausweg aus dem krisenhaften Zustand unserer gegenwärtigen Welt diskutiert wurden.[2]

Heike Eipeldauer


[1] Meret Oppenheim, Husch, husch, der schönste Vokal entleert sich, Gedichte, Prosa, hrsg. und mit einem Nachwort von Christiane Meyer- Thoss, Frankfurt am Main 2002, S. 25.

[2] Vgl. Françoise d’Eaubonne, Le Féminisme ou la Mort, Paris 1974; Donna J. Haraway, Das Manifest für Gefährten. Wenn Spezies sich begegnen – Hunde, Menschen und signifikante Andersartigkeit, Berlin 2016; Anna Lowenhaupt Tsing, Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus, Berlin 2019; Franz Thalmair (Hg.), mixed up with others before we even begin, Ausst.-Kat. Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Köln 2022; Heike Eipeldauer, Franz Thalmair (Hg.), Kollaborationen, Ausst.-Kat. Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Köln 2022.