Galerie Hubert Winter

AJAR: Charbel-joseph H. Boutros. Alessandro Piangiamore. Stéphanie Saadé.
Curated by Mouna Mekouar
4. September – 2. Oktober 2021
Sie war eine Fee – eine Waldnymphe, auf ewig unsichtbar für alle Sterblichen, abgesehen von den wenigen, die Augen zum Sehen und ein Herz zum Glauben haben. Diesen Menschen ist sie immer gegenwärtig: der Geist der Natur, eine Elfe der Wiese, eine Nixe der Seen, eine Nymphe des Waldes.
Die letzten Zeilen. In: Barbara Newhall Follett, Die Welt ohne Fenster. 1927. Dt. v. St. Fahrner. München, Diana, 2020

Mit unterschiedlichen Ansätzen geben Charbel-joseph H. Boutros (*1981, lebt in Beirut und Paris), Alessandro Piangiamore (*1976, lebt und arbeitet in Rom) und Stéphanie Saadé (*1983, lebt und arbeitet zwischen Beirut, Paris und Amsterdam), dem Formlosen eine Form, um das Immaterielle sichtbar zu machen oder die unsichtbaren Aspekte der Dinge zu enthüllen. Sie über-setzen Emotionen, Gefühle und Wahrnehmungen und geben jedem Objekt eine neue Bedeutung. Jedes Kunstwerk wird zu einer Art poetischem Raum mit einem inhärenten Vorstellungspotenzial. Es sind intime Räume, Refugien, Orte, an denen ein Austausch mit dem Publikum stattfinden kann. Dieser Ansatz erinnert an das „Theatre of the Invisible-Made-Visible“, mit dem Peter Brook (1) das Theater von Shakespeare beschrieb. Dank Shakespeares „Aufteilung des Sinnlichen“ (2) übersetzt Shakespeare „the invisible currents that rule our lives“ und spielt mit zahlreichen Stilen und politischen Diskursen. Im Lichte dieser Rhetorik vermitteln die ausgestellten Kunstwerke ein poetisches und paradoxes Bild der Welt, das das Publikum einlädt, eine intime und intuitive Beziehung zu jedem dieser Kunstwerke einzugehen, aber auch und vor allem nach ihrer Beziehung zur heutigen Welt zu fragen.

Das Œuvre von Charbel-joseph H. Boutros stützt sich als Ausdruck des Intimen, wie auch Mon Amour, auf seine inneren Erfahrungen, um ein Universum von nicht wahrnehmbaren Realitäten zu schaffen. Der Künstler nähert sich diesen Phänomenen mit der Kraft der Träume und schafft scheinbar schwer fassbare Welten. In Night Cartography versucht Boutros, das Dunkle und Geheimnisvolle der Nacht zu kartieren. So übersetzt er seine Träume und Fantasien in Zonen. „All this is present in my work of art, both visibly, as well as almost imperceptibly“, so der Künstler. Dieses Werk ist Teil seines größeren Projekts, zusammen mit einer Decke mit verbrannten Rändern, genannt Night cartography #2. Bei 2m Long of Isolated Darkness handelt es sich um ein thermisch und akustisch vom Ausstellungsraum isoliertes Volumen. “Darkness erases our differences, erases time, erases the present. It is a natural and vital experience“, so Boutros.

Fasziniert von den Schwingungen der Materie und der unendlichen Bewegung der Natur, gelingt es Alessandro Piangiamore, Unmittelbarkeit und flüchtige Eindrücke zu übersetzen, indem er mit dem Immateriellen und dem Greifbaren, dem Künstlichen und dem Natürlichen, der Starrheit und der Weichheit von Materialien spielt. Mit seiner Serie Ikebana fängt der Künstler den Abdruck von gefundenen Blumen in Zement ein. Die Tafeln erinnern sowohl an die vergängliche Schönheit dieser Blumen als auch an die steinerne Zeitlosigkeit von Fossilien. So trifft die Trivialität von Beton auf die Zartheit von Blumen und Pflanzen. Dust Hunter besteht aus vulkanischem Sand und Erde aus Sizilien – der Heimat des Künstlers – und evoziert mit seinen Farben, die von Schwarz bis zu tellurischem Braun reichen, eine bewegte Landschaft. In seinen Werken gelingt es Piangiamore, das Innere und Äußere, das Intime und Unermessliche, Erinnerungen und Geheimnisse miteinander zu verbinden.

Im Gegensatz dazu zeigt Stéphanie Saadé ihr Interesse an stillen Räumen, in denen die Zeichen eines abwesenden Lebens zu sehen sind. Ähnlich wie „szenografische Gefäße“ scheinen diese Objekte in einer Art Wartezustand zu sein. Eine gänzlich mentale Architektur nimmt Gestalt an, die auf die Reisen und Wanderungen des Gedächtnisses verweist, wie in Building a Home with Time oder We‘ve Been Swallowed by Our Houses. Vom Objekt zur Erinnerung oder von der Erinnerung zum Objekt – diese wechselseitige Bewegung ist ihrem Ansatz inhärent. Nach diesem Prinzip verwandelt Golden Memories die Erinnerungen an die Vergangenheit in einen Spiegel der Gegenwart. Fliehen oder verblassen, sich entziehen oder verschwinden, bleiben oder entkommen sind wiederkehrende Themen der Künstlerin. In Digiprint verwandelt sie eine Aufnahme ihres Telefondisplays in eine bildliche Form, die das Private und das Öffentliche miteinander verbindet.

So schaffen diese drei Künstler*innen Räume, die halb offen stehen (standing ajar) und verborgene und geheimnisvolle Welten offenbaren. Diese unsichtbaren Welten, die sich an die sichtbare anlehnen, provozieren – wie das Theater – die Vorstellungskraft des Publikums und werfen so neue Fragen im Kopf auf.

(1) Peter Brook, The Empty Space, New York, Touchstone, 1996, p. 49, 52.

(2) Jacques Rancière, The Politics Of Aesthetics: The Distribution of the Sensible, Continuum, 2004.

Text by: Mouna Mekouar