Galerie Hubert Winter

Nachrichten aus dem Niemands­land
Michael Höpfner im Gespräch mit Christian Kravagna und Christian Reder — Ausstellungskatalog. Unsettled Conditions. Kunstraum NOE, Vienna. 2008

CHRISTIAN REDER: Parallel zur Beschleunigung von allem und jedem wird von Kontrapositionen aus versucht, zu bremsen: Ivan Illich, der aus Österreich stammende, dann in Mexiko lebende Technikkritiker plädierte dafür, möglichst alles zu Fuß gehen, sich nicht schneller wie auf einem Fahrrad oder einem Ochsenkarren zu bewegen, als Grundbedingung für Weltwahrnehmung. Dass er selbst viel im Flugzeug unterwegs war, hat er als Übergangskompromiss dargestellt. Der Buchtitel von Sten Nadolny, ‚Die Entdeckung der Langsamkeit’, bekam fast die Kraft einer gängig gewordenen – als Programm uneinlösbaren – Devise. Deine Bilder verlangsamen das Geschehen weiter: bis zum Stillstand, aber auch als anderer Rhythmus.

MICHAEL HOEPFNER: Was mir zu Fuß gehen ‚an sich’ bedeutet, beschäftigt mich durchaus. In der Land Art, bei Richard Long etwa, bekommt sein Gehen die Bedeutung einer Skulptur. Bei mir hingegen geht es eindeutig darum, einen anderen – einen gesteigerten – Zustand der Wahrnehmung zu erreichen: Einen Trip machen; durchaus in Analogie zu Drogenerfahrungen. Dazu gehört ‚die Fremde’, das Reisen in entlegene Gegenden. Wird das zum nomadischen Mythos wie bei Bruce Chatwin, überhöht sich das zu sehr. Wir bleiben Teil einer Tourismusgesellschaft.

CHRISTIAN KRAVAGNA: Land Art ist letztlich eine konzeptionelle Kunst. Concept Art lässt sich als Foto inszenieren und damit ist es erledigt, wegen anderer Wertigkeiten. Deine Kunst, deine Praxis, lebt aber tatsächlich von dieser realen Handlung, dem realen Prozess des Wanderns selbst, um durch Langsamkeit auf andere, unvertraute Sichtweisen zu kommen. Worauf aber richtet sich dieses Interesse?

MICHAEL HOEPFNER: Es beginnt mit einer Sehnsuchtshaltung, mit dem Wunsch, dahinter, hinter den Horizont zu blicken. Unterwegs in Zentralasien, in Tibet und in Westchina, ist es mir besonders deutlich geworden, dass ich auf diese ausgesetzte Weise in Lebensumstände eintauche, die mir tatsächlich völlig fremd sind. Das hat mich selbst an bestimmte physische Grenzen gebracht, aber auch damit konfrontiert, wie diese Menschen eigentlich überleben.

CHRISTIAN REDER: Eine bleibende Erinnerung ist für mich das Zusammentreffen mit zwei, von Lastkamelen begleiteten Tuareg geblieben, die zu Fuß von Libyen nach Niger unterwegs waren, bloß um Freunde zu besuchen. Das entspricht Distanzen von New York nach Los Angeles. Weil wir solche Leben nicht leben könnten, verstehen wir sie auch nicht, was aber für globale Einsichten wichtig wäre. Wer kann sich schon vorstellen, mit 20 oder 60 Euro im Monat durchzukommen, als Vorfragen zu Orientalismus- oder Postkolonialismus-Debatten?

CHRISTIAN KRAVAGNA: Ein Akzeptieren anderer Lebensformen ist auch mir ein wichtiges Thema; schon als Befragen der eigenen Denkkategorien oder üblicher Modernisierungsskalen. Nur lässt sich die 60-Euro-Situation auf existenzielle Probleme übertragen, die sich in unseren Breiten eben mit 600 Euro im Monat ergeben, für eine alleinstehende Frau mit Kind etwa.

MICHAEL HOEPFNER: Der Versuch, andere zu begreifen, wirft einen auf die eigene Kultur zurück. Es entsteht ein Hin-und-her-Blick. Die Herkunft erscheint in anderem Licht.

CHRISTIAN REDER: Der Respekt für Überlebensformen, die uns längst unmöglich wären, macht vieles bewusster. Fällt bei uns der Strom aus, steht alles, auch mein PC. Der Abhängigkeitsgrad nimmt laufend zu, als Preis für Komfort. Das verbreitet sich, als Systemmerkmal, derzeit über die ganze Welt. Was nicht zu kaufen ist, spielt immer weniger Rolle. Traditionelle Gesellschaften, von denen wir reden, zeichnen sich demgegenüber durch unglaubliche Improvisationsleistungen aus. Ist das die geheime Faszination?

MICHAEL HOEPFNER: Die simplen Regeln, nach denen ein Nomadenlager organisiert ist, beeindrucken; zugleich ist überall das Auseinanderbrechen solcher Formen zu beobachten. Also frage ich mich ständig, inwieweit mich meine romantische Suche nach Authentizität nicht überlistet. Hat es diese je gegeben?

CHRISTIAN REDER: Dirk Baecker stellt in seinem neuen Buch ‚Studien zur nächsten Gesellschaft’ insistierend die Frage, wohin Gesellschaften zerfallen. Wichtig sei, dass es weitergeht und dass das Nächste noch als Gesellschaft erkennbar bleibt. Der Glaube, es werde durchwegs schlechter, ist eben ein Glaube. Selbst miterlebte erfreuliche Fortschritte geraten schnell in Vergessenheit. Vielleicht wird es bloß freudloser?

CHRISTIAN KRAVAGNA: Von der unglaublichen Kreativität unter Bedingungen einer Mangelwirtschaft oder einfachster Lebensverhältnisse lassen sich Bezüge zu Experimenten in Survival-Camps herstellen oder auch zur Geschichte der Moderne, die sich mindestens seit dem 19. Jahrhundert immer wieder mit Blick auf dieses Andere formuliert hat. Auch in deiner Arbeit deutet sich an, was solche verschiedenen Lebenswelten verbindet – ökonomisch, politisch, kulturell. Als Künstler kann es ja nicht nur darum gehen, sich selbst zufriedenzustellen. Wie siehst du aus deiner künstlerischen Praxis die Anknüpfungspunkte?

MICHAEL HOEPFNER: Eine Zeitlang waren mir menschenleere, unberührte Landschaften das Wichtige, als Sehnsuchtsbilder, als Erfassen von Verschwindendem. Das ging so weit, dass ich mich selbst als Verschwindender gefühlt habe, mich gleichsam auflösend. Das führte in Richtung Null-Aussage, hat das Einbeziehen von Sozialem notwendig gemacht; vorsichtig, andeutend. Um Vorgeprägtes zu analysieren, versuche ich vermehrt, mit inszenierten Fotos von mir begegnenden Menschen die Brüche zwischen Sehnsüchten nach Authentizität und dem Realen präzise zu visualisieren, bewusst mit Anklängen an die frühe ethnographische Fotographie. Indem ich den westlichen Blick nicht verberge oder überspiele, erweitere ich meine Arbeit.

CHRISTIAN REDER: Parallel zur Industrialisierung wurden mit dem Bergsteigen und Klettern die Natursehnsüchte extremer. Das Wechseln zwischen Zivilisation und Wildnis hat also eine Geschichte. Du durchwanderst stattdessen Tibet. In Bhutan kostet das bereits ein Vermögen. Warum aber sind in simplen Herbergen sehr oft aufmerksamere Menschen anzutreffen als in Luxustempeln, den Prototypen für schönes, nachahmenswertes Leben? Ich sehe da Zusammenhänge mit unseren Fragestellungen zum Fremden: Die eigene Gesellschaft wird einem durch das von Jahr zu Jahr infantiler präsentierte Talk-Show-Volk fremder, unsympathischer, so als ob ein Programm der Entfremdung dahinter stünde. Fernes lässt sich leichter respektieren, wie zu Zeiten von James Cook, der ja mit Wissenschaftlern und mit Zeichnern wie Georg Forster unterwegs gewesen ist. Das waren Lichtblicke in den Brutalisierungsphasen; da dabei zu sein, hätte mir gefallen, vielleicht auch Michael Hoepfner.

CHRISTIAN KRAVAGNA: Da kommt in mir Skepsis hoch, weil diese unter ‚Aufklärung’ laufenden Leistungen der Wissenschaft und der Künste die Grundlagen der Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse der Kolonialsysteme geschaffen haben. Gleichzeitig mit solcher Wissensproduktion, mit der Verklärung und Verkitschung der Natur, hat eine Sorge um die Natur eingesetzt. Diese Ambivalenzen interessieren mich, weil ja an Lösungen unter modernen Bedingungen gearbeitet werden muss – ohne Beschwörung angeblich einfachen Lebens.

MICHAEL HOEPFNER: Es ging auch immer um ein Gegenbild zur Stadt. Die ersten Bergsteiger kamen aus London. In Tibet sind derzeit, auch ästhetisch, sehr ähnliche Vorgänge zu beobachten, etwa am Auftreten chinesischer Touristen. Das ergibt Rückprojektionen zu unserer Geschichte, dazu, was überall unter Erschließung verstanden wird. Im Zeitraffer laufen Dinge ab, die bei uns relativ lange gedauert haben.

CHRISTIAN REDER: Dennoch: Hoepfner-Fotos sind für mich Nachrichten aus dem Niemandsland. Die Menschen dort sind ihren Staaten – und der Natur – gleichgültig. Global gesehen wird das Landesinnere leerer, trocknet auch sozial aus, als mehrschichtige Versteppung. Über die Hälfte der Menschheit lebt inzwischen in urbanen Agglomerationen, alles strebt, vor allem in Asien, an die Küsten. Michael Hoepfner ist in der Gegenrichtung unterwegs.

CHRISTIAN KRAVAGNA: Den Begriff ‚Steppe’ zur sozialen Steppe zu erweitern, finde ich sehr treffend. Damit sind wir erneut bei der Spaltung in privilegiert und unterprivilegiert. Dazu eine These: Allgemein privilegierte Lebensverhältnisse gab es nur im europäischen Sozialstaat der Nachkriegsjahrzehnte. Soziale Differenzen waren tendenziell soweit ausgeglichen, dass sich auch Privilegierte nicht ständig bedroht fühlen mussten. Mit dieser Balance ist es leider vorbei. Wo anders hat es sie ohnehin nicht in dieser Form gegeben. Es war ein kurzfristiges, regional begrenztes Gleichgewicht. Es gelang nicht, das zu universalisieren. Globale Sichtweisen müssen sich diesem Dilemma stellen.

CHRISTIAN REDER: Bewachte Upper-Class-Inseln mit ‚Sozialsteppen’ dazwischen sind ein überall um sich greifendes, beklemmendes Polarisierungsszenario. Aber gehen wir nochmals auf künstlerische Arbeitsweisen ein. Ich selbst reise vorwiegend im Kontext selbst gestellter Aufgaben – entwickle Projekte, an denen Studierende, Künstler, Wissenschaftler teilnehmen. Dieser berufliche Aspekt grenzt vom Tourismus ab, bei dir zugespitzt zum Alleingang.

MICHAEL HOEPFNER: Ein Maler geht ins Atelier und hat dort seinen Utopie-Ort. Meine Projekte haben viel mit Aufbrechen zu tun, mit einem Ausklinken aus dem Alltag. Die Themen ergeben sich Schritt für Schritt. In Steppen finde ich sie, weil ich sie als Kulturlandschaften und Transferzonen, nicht als Leere betrachte. Was ich von dort mitbringe, hängt auch mit dem auf solchen Wanderungen notwendigen Minimalismus zusammen.

CHRISTIAN REDER: Mir ist erst rückblickend klar geworden, dass sich meine Projekte auf die antike Mittelmeerwelt konzentriert haben: Herodot, Nordafrika, Syrien, der Indus, zuletzt der Dnjepr und der Don. Entstanden sind skizzenhafte Topographien dieser Weltausschnitte, dokumentiert in Büchern, in ‚mobilen Ausstellungen’ also.

MICHAEL HOEPFNER: Mir bleibt die großflächige Ausstellung wichtig, schon wegen des Raumes. Dass in deinen Überlegungen, wie oft betont, die – zumindest denkbare – Anreise über Land eine Rolle spielt, hat mich beschäftigt und mein Interesse an Transferzonen bestärkt. Von China aus sind das die Steppenrouten der Seidenstraße. Das ergibt – auch visuell – einen neuen Blick auf Europa und eine anders orientierte Topographie bestimmter Aspekte der Welt.

CHRISTIAN KRAVAGNA: Als Kunstkritiker nachfragend: Wie lässt sich das entsubjektivieren, wie verdeutlichen? Zu Reisen motivieren mich bestehende Kontakte, spezielle Beziehungen zu Künstlern als Anhaltspunkte, nicht ein geographisches Flächendenken. Ob ich auf dem Landweg wohin käme, ist nicht wichtig. Erkenntnisgewinn wäre mein Stichwort.

MICHAEL HOEPFNER: Du bist viel in Afrika unterwegs, bei mir hat sich aus frühen Reisen in die Osttürkei, nach Syrien, in den Iran das Weitere ergeben – aus der Konfrontation mit dem Fremden und seiner visuellen Welt, seiner Ästhetik. Neues und Wiederholung werden so anders erfahrbar. Deswegen kehre ich oft an mir schon bekannte Orte zurück, um nachzuhaken und genauer hinzusehen. Vieles davon begreift man erst zuhause und daraus entsteht das nächste Projekt.

CHRISTIAN REDER: Ist es nicht auch ein Drang zum Reisen ins Nichtwissen? In Österreich werfen einen dauernd Vorurteile, Vermutungen, Körpersprache, Redeweisen, Kleidung auf Stereotypes zurück. In der wirklichen Fremde lässt sich das distanzierter sehen, abgehoben von verborgen bleibenden Bedeutungen, als ‚abstrahierte’ Bildwelten. Sprache hat, abgesehen vom Small-talk-Englisch, kaum eine Bedeutung. Eine Zeitlang befreit mich das. Die sich zwangsläufig ergebende Oberflächlichkeit hat mich dann doch immer wieder nach Europa zurückgeführt. Auch bei dir sind es doch vor allem Bildwelten …

MICHAEL HOEPFNER: … vorerst jene, die ich schon im Kopf habe. Sie leiten mich, ich will ihnen aber entkommen und eine andere, viel genauere Sprache finden als jene der ‚Exotisches’ präsentierenden Bildmedien. Dass ein Nichtverstehen fremder Sprachen befreien kann, ist eine mir sehr wichtige Feststellung – Konzentration auf das Sehen, das Riechen, das Spüren, Bewusstsein um Distanzen. Das unterscheidet meine Arbeit von Reisereportagen, die oft eine Intimität unterstellen, dabei werden nur eindrucksvolle Momente abgebildet. Mir ist die Offenheit der Interpretation sehr wichtig, nicht die Fiktion einer Teilnahme.

CHRISTIAN KRAVAGNA: Problematisch ist, dass wir unsere eigenen Geschichten in deine Arbeit hineinprojizieren. Um aber deren diffizile Punkte wirklich verbalisieren zu können, müssten wir systematischer vorgehen, mehr Raum beanspruchen …

CHRISTIAN REDER: … wie in Hoepfner-Ausstellungen selbst, wo Zeichnungen und Notizen die Dimensionen der Fotoarbeiten erweitern.

MICHAEL HOEPFNER: Was soll ich dazu sagen? Meine kartographischen Aufzeichnungen legen als mental mapping die Produktionsweise offen, das Herangehen, wie es überhaupt zu diesen Fotos kommt, die stets nur ein Aspekt meiner Arbeit sind. Als visueller Denker suche ich über meine ‚Materialisierungen’ Zusammenhänge herzustellen und erfahrbar zu machen.

CHRISTIAN KRAVAGNA: Viele deiner Fotoarbeiten funktionieren durchaus für sich und brauchen keinen Kommentar. Manche Landschaftsfotos könnten leichter falsch gelesen werden. In Serien wird der Erkenntnisanspruch deutlicher.

MICHAEL HOEPFNER: Es geht um Erkenntnisstufen, von denen wir gesprochen haben. Als Künstler glaubst du im Moment, das Bild sagt bereits alles aus. Dann merkst du, wie abweichend oft die eingeübten Lesarten von Betrachtern sind. Du reagierst mit Brechungen, wie es meine neuen Versuche mit Dia-Serien, die fast filmischen Charakter haben, sind. Fußspuren irritieren die Unberührtheit. Angst vor sich anbahnenden Eingriffen drückt sich aus. Jede neue Straße würde das alles komplett verändern.

CHRISTIAN REDER: Deine Bilder sind für mich auch Ausdruck einer eigenwilligen Lebensform, Ausdruck, sich viele Freiheiten zu nehmen. Die strikte Trennung von Werk und Leben wollte ich nie akzeptieren.

MICHAEL HOEPFNER: Das will ich auch nicht. Kunst braucht solche utopischen Aspekte, als letztlich individualisierte Versuche – durchaus auch das eigene Leben betreffend.

CHRISTIAN KRAVAGNA: So sehr mich solche Ansprüche beeindrucken, kann ich daraus keine Regel ableiten. Auch der Konzeption vom Künstler als unheroischem ‚Bürokrat’ kann ich etwas abgewinnen. Die Positionierung gegenüber gerade propagierten Modellen gibt eigenen Haltungen Kontur. Ein Werk wird nicht höherwertiger, weil du statt zwei Wochen monatelang unterwegs gewesen bist. Extensive Reiseerfahrungen können aber indirekt, in den Abfolgen als Erkenntnisgewinn sichtbar werden. Interessant finde ich, wie deine Bildausschnitte das Umgebende, Ausgegrenzte mitschwingen lassen. Es könnte demnächst eine Straße gebaut werden, als Bedrohung des Unberührten. Sie kann aber für viele auch eine Wohltat sein. Ein Kulturpessimismus allein ergäbe keine Perspektiven.

MICHAEL HOEPFNER: Genau diese verschiedenen Erzählstränge lote ich aus um eine bestimmte Atmosphäre aufzubauen, die von Rezipienten mitempfunden und mitgelesen werden kann.