Galerie Hubert Winter

Testwall
Martin Zeiller — exhibition at Testwall 'Testwalk' bei TZ'ART & Co., NYC., Feb. - March. 1998

Franz Vana. Testwalk. New York. 1998.
Ausstellungsansicht Franz Vana - Testwall: "Testwalk", TZ'ART & CO, 1998.

New York NY, Wooster Street nach dem Regen. Franz Vana (geb. 1951 im Burgenland , lebt in Wien und Rauchwart) macht Photos vom Gehsteig vor Hausnummer 28. Altes Kopfsteinpflaster , brüchiger Straßenbeton , bröckelnde Makadamausgüsse , Bodensenkungen und Schlaglöcher voll Schmutz und Regenwasser, in denen sich Häuserfluten, Fensterfassaden, Feuerrtreppen, Dachlandschaften, Wolkenformationen spiegeln. Trostlose Stadtlandschaft, darüber Füße auf einem Steg in schreitendwandernder Position nach Westen, barfuss der Sonne nach.
Eine Photomontage, koloriert in giftigem Violett, Lila, Hellblau, Zitronengelb, Türkisgrün, Orange, Hautfarben. Die fünf Blow-ups von Kleinbild-Photos auf 288x250cm stellen eine veränderte "Situation trouvée" dar. Vana bringt die topographisch-dokumentarischen Photographien- sie erinnern an pittoreske Photographien der Jahrhundertwende- in Beziehung zueinander, indem er durch Auswahl deren Randbereiche aufeinander anpasst und kompositorisch erweitert. Zwischen den amorphen Strukturen der beschädigten Straßendecke und einer konstruierten ordnungsstiftenden Symmetrie bildet sich ein Schwebezustand zwischen Realität und Fiktion, zwischen Dokumentation und malerischer Komposition, Identifizierbarkeit der Formen und Unbestimmbarkeit. Vana montiert die zufällig gefundenen Situationen und Objekte, die die Psyche assoziativ aktiviert und stimuliert. Eine waagrechte Spiegelung der Photographie im Labor unterstützt zusätzlich das projektive Sehen. Der Gegenstand wird verdunkelt und verrätselt, um ihn der Erklärbarkeit und Nützlichkeit zu entführen. Die Straßenlandschaft wird zum Schanier zwischen Innen- und Außenwelt. Bedeutung hat nicht die objektiv-reale Wirklichkeit, sondern, das, was der Betrachter isoliert und gegenständlich besetzt. Imaginäre Landschaften mit chimärenhaftem Eigenleben werden hervorgerufen. Die fragmentierten Bodenstücke mit amorphen Strukturen sind mehrfach gedoppelt und setzen sich als rhomboide Formen neu zusammen. Mit dem collagierten Photo bezieht sich Vana künstlerisch-frei auf den Assoziations-Test des Schweizer Psychiaters Hermann Rorschach und setzt wie dieses diagnostische Testverfahren auf die halluzinatorischen, projektiven Fähigkeiten des Betrachters. In einer subjektiven Spurensuche werden Löcher und Leerstellen aufgefüllt und Realitätspartikel aufgeladen. Sie gerinnen zwischen Traum und Wirklichkeit, im Zusammentreffen einer äußeren Kausalität mit einer inneren Finalität, zu einer phantasmagorischen gegenständlichen Realität und stellen ein archaisch-magisches Potential dar. Es werden verborgene, virtuelle Bedeutungen sichtbar und multiple Identitäten geschaffen: Eine Ästhetik des Multiplen mit einem Geflecht von Analogien und mit wuchernden Assoziationshöfen, in der das Besondere nicht mehr dem Allgemeinen unterworfen ist. In außergewöhnlich-gewöhnlichen Gegenstände bricht nach dem Regen das Wunderbare ein. Die Pfütze wird zum unauslotbaren Ozean der Seele, die externe Realität durch eine psychische ersetzt. Erinnert sei hier an Leonardo da Vincis Wahrnehmungsübung für Künstler vor einem alten Gemäuer mit verschiedenen Hecken oder auch mit einem Gemisch aus verschiedenartigen Steinen, aus denen seltsame und unendlich viele Dinge gelesen werden können. Dies wird hier zum einen durch die Wasserspiegelsituation und zum anderen durch den labortechnischen Verdoppelungseffekt und die sequentielle Anpassung der Einzelphotos provoziert. Die vorgefundene topographische Situation ist Ausgangsmaterial einer Transformation und Transfiguration; es findet eine Rückverwandlung von Kultur in Natur statt, deren geistige Wurzel in der deutschen Romantik liegen.
Das Werk hat Versuchscharakter, der durch den Titel Testwall: "Testwalk" unterstrichen wird. Die topographische Aufnahme, deren Spiegelung zur Gänze im Innern der Galerie in einem schmalen Korridor zu sehen ist, wird durch die Montage von Füßen in wandernd-schreitender Bewegungsposition formalisiert und durch eine narrative Ebene erweitert. Freie Assoziationen werden provoziert: Wasser, Straße, Gehsteig, Brücke, (Lebens-)weg, Erde, Luft, Straße, Wasser. Die Füße, als ornamentale Bordüre über spiegelndem und zusätzlich gespiegeltem Wasser montiert, täuschen eine Gehsituation ("walk") vor. Die triviale Geste der Fortbewegung, eine Photostudioaufnahme des Künstlers, ist künstlerisch aufgeladen: "Going to San Francisco", wie es in dem berühmten Song von 1967 heißt. Die nackten Füße auf dem Steg sind ein Verweis auf die Hippiebewegung und stellen eine narrative Referenz auf Jack Kerouacs Roman "On the Road" dar. Das ganze Universum ist dort die Straße, ein literarisches Testament der Beat-Generation; Rebellion gegen die Anpassungssucht als ununterbrochenes Unterwegssein im Suchen nach Intensität im spontanen Erleben. Damit greift Vana eine Mythologie des nordamerikanischen Alltags auf. In der Zeit des virtuellen Reisens im Internet sind die road movies mit ihrem Kult der romantischen Armseligkeit und der subkulturellen Urlandschaft freilich schon längst integrativer Bestandteil der nordamerikanischen Mythologie und des folkloristischen Kulturtourismus, die nichtgelebte Erfahrungen kompensieren. Der Drive der großen Wandarbeit, dessen Bricolage und handwerkliche Montage, zeigt mit einer Brise bitterer Ironie das große Fluchtepos als viele kleine Fluchten. Das am Ort - "in situ" - ausgeführte Werk beinhaltet eine Komplexität von photohistorischen, künstlerischen und literarischen Bezügen, Verweise dritten Grades. Geschichte ereignet sich mehrfach, das erste Mal am Original, dann als Paraphrase, als klischiertes Versatzstück. Die Montage verbindet unterschiedliche bildliche Verfahrensweisen und Gestaltungselemente und definiert das Kunstwerk als Einheit parallel laufender Erzählstränge. Die durch die exponierte Situation der straßenseitigen Auslage der Galerie den Betrachter in das Bild involvierende Wandarbeit bleibt beunruhigend. Ein Wechselbad der Gefühle zwischen Kälte- und Wärme: Betroffenheit, merkwürdige Beklemmung, Erstaunen, spirituelle Öffnung. Es wird in diesem enigmatischen Werk letztlich auf eine lebensgeschichtlich- biographische, auf eine individuelle Mythologie rekurriert. Gerade der Bezug auf Alltagsmythen in dieser imaginativen Photoarbeit ist der Versuch, kulturelle Identität in Bilder zu fassen, der damit über die Grenzen der rational-diskursiven Erkenntnismöglichkeit hinaus geht. Das Mythische tendiert dazu, nur mehr Form zu sein. Die Erfindung dieses neuen Mythos ist private Angelegenheit von Individuen, jedoch bekommt gerade hier Photographie zwischen Ablichtung und Erscheinung der Welt kollektive Bedeutung: "Situation trouvée", am 25.Oktober 1997, 14.30Uhr.

Wien, im Januar 1998