Visueller Nukleus oder die Unruhe des Bildes (März 2000)
Christian Muhr:
Der Titel der Ausstellung lautet "shade". Es erscheint mir bemerkenswert, dass eine Ausstellung, die sich mit Malerei beschäftigt, den "Schatten" im Titel führt; noch dazu, als schon ein erster Blick auf die präsentierten Arbeiten zeigt, dass dabei die Farbe ein zentraler Faktor ist. Deshalb würde mich interessieren, weshalb die Ausstellung so heißt?
Ingo Nussbaumer:
Der Ausdruck "shade" bedeutet nicht nur "Schatten", sondern auch "Farbnuance, Schattierung" und es erschien mir im Zusammenhang mit dem Thema des Schattens, das ich ja seit einigen Jahren verfolge, der geeignetste Ausdruck zu sein, da in meiner Malerei die Farbnuance eine ganz wesentliche Rolle spielt oder sich zu einer ganz wesentlichen Rolle entwickelt hat.
C.M.:
Der Titel bezieht sich tatsächlich auf die Problematik der Nuance und nicht so sehr auf die Polarisierung von Licht und Schatten bzw. Weiß und Schwarz?
I.N.:
Ja, die Thematik führt bis zum Phänomen des "farbigen Schattens", als ein besonderes Beispiel der Nuancierung.Dieses Phänomen trifft man in der Natur unter bestimmten Lichtverhältnissen an und es ist an sich schon ein höchst malerisches Ereignis. Der Schatten kann plötzlich einen Farbcharakter annehmen. Und diese Verwandlung interessiert mich. Der Grund, weshalb mich das Thema noch interessiert, ist, dass sich die Kunst der 60er und 70er Jahre von diesen "klassischen" Themenbereichen der Malerei distanziert und die "reine Farbe" oder die Industriefarbe in den Vordergrund gestellt hat, wobei diese Haltung bis in die Gegenwart eine gewisse Aktualität besitzt. Nicht zuletzt hat allerdings auch der Einsatz des Computers neue Verhältnisse geschaffen, denn er ermöglicht, ganz neue Farbsituationen im Voraus zu studieren, was früher nicht möglich war.
C.M.:
Es gibt in der Kunst dieses Jahrhunderts eine Tendenz, die besagt, dass man sich entweder bevorzugt mit der Farbe auseinanderzusetzen hätte oder mit dem Phänomenen wie beispielsweise der Struktur. Die Kubisten waren beispielsweise der Meinung, sie könnten sich nicht mit beidem zugleich beschäftigen.
I.N.:
Was Du da anschneidest, ist im Grunde ein altes Problem, welches das Verhältnis von "disegno" und "colore", "Zeichnung" und "Farbe" betrifft. Den Streit um die Vorherrschaft gibt es eigentlich schon seit der Renaissance und er wird in ständig modifizierter Form bis ins 20. Jahrhundert fortgeführt, wo er sich im Konflikt von "Struktur" und "Farbe" niederschlägt. In meiner Konzeption der Malerei räume ich weder der Struktur noch der Farbe die Vorherrschaft von vornherein ein, sondern Struktur und Farbe haben vollkommen gleichwertige Bedeutung. Es gibt Bildideen, bei denen die Struktur zunächst im Vordergrund steht und es gibt Bildideen, bei denen die Farbe im Vordergrund steht. Meine Grundintention war es immer, einerseits Struktur aus Farbe zu entwickeln und die Farbe auch bis zu einer Struktur zu verfestigen oder zu verdichten und andererseits, Farbe aus Strukturen entstehen zu lassen bzw. zu denken. In meiner Arbeit spielt der Entwicklungsgedanke eine ganz entscheidende Rolle. Die Farbnuance ist ja auch das Ergebnis eines Prozesses, denn sie kann nicht einfach gesetzt, sondern muss aus den gewählten oder ideell konzipierten Hauptfarben entwickelt werden. Meine Fokussierung auf die Farbnuancierung erscheint mir als logische Konsequenz in historischer wie faktischer Hinsicht.
C.M.:
Du sprichst in diesem Zusammenhang gerne vom Farbcharakter. Könntest Du diesen Begriff näher präzisieren?
I.N.:
Jede Farbe hat einen eigenen, fast unverwechselbaren Farbcharakter. Das ist schon insofern wichtig, als damit von vornherein der individuelle und nicht nur der universelle Charakter der Farbe angesprochen ist. Ich kann natürlich jede Farbe gleich behandeln, ich kann jede Farbe gleich auftragen und vollkommen indifferent mit Farbe umgehen, spreche ich aber vom Farbcharakter, dann gestehe ich jeder Farbe einen eigenen Wert zu, der nur dieser Farbe zukommt. Dieser Wert relativiert sich natürlich im Augenblick der Konfrontation mit einer anderen Farbe. Es gibt nicht den absoluten Wert, aber es gibt den relativen Wert, der sich generalisieren kann, wenn man eine Farbe in vielen Farbsituationen beobachtet und der Wert perenniert, d.h. sich erhält. Diesen Wert kann man, wenn man ihn herausarbeitet, in Bildkonzeptionen bewusst einsetzen. Beispielsweise differenzieren sich Rot und Blau von ihrem Raumcharakter, wie Zeitcharakter. Rot ist eine schnelle und eine frontale Farbe, sie kommt nach vor, sie hat aggressiven Charakter, während die blaue Farbe einen Tiefencharakter und das Merkmal von Dauer besitzt. In der
Ausstellung gibt es ein Bild, bei dem ein oranger Farbbalken einen Schatten auf türkisen bis grüngelblichen Hintergrund wirft und so die räumliche Dimension herstellt. Das wäre ein Beispiel, wie man den Farbcharakter einsetzen kann, um daraus eine Bildstruktur zu entwickeln.
C.M.:
Noch einmal zurück zum Thema des Differenzierens und Nuancierens: mich würde interessieren, wie sich dieser Aspekt in Deiner Arbeit mit dem Computer niederschlägt. Der Computer rechnet einem zwar alle möglichen Farben vor, aber das Herauspräparieren des "Farbcharakters" wird wohl immer über die Kunst passieren und nicht so sehr allein über algorithmische Konstellationen ?
I.N.:
Zunächst ist zu sagen, dass sich die Bildschirmfarbe von der Materialfarbe doch erheblich unterscheidet. Das heißt, auch wenn man am Computer die Farbnuancen studiert, so kann man das Ergebnis nicht eins zu eins auf das Bild übertragen, da die Materialfarbe einen ganz anderen Charakter besitzt. Die Bildschirmfarbe ist der Lichtfarbe zugeordnet und es finden sich in ihr Nuancen, die man mit Materialfarbe, mit Stoffarbe, mit Pigmenten nicht erreichen kann. Umgekehrtes gilt natürlich genauso.
C.M.:
Aus diesem Grund bedeutet auch die Perfektionierung in der digitalen Herstellung keine Gefahr für die Malerei. Es gibt ja immer wieder die etwas oberflächliche Vermutung, dass hier ein Medium mit unbeschränkten Möglichkeiten existiert, während das "alte" Medium Malerei gewissermaßen beschränkt wäre. Das stimmt so sicher nicht, denn es gibt einfach einen kategorischen Unterschied.
I.N.:
Es gibt einen kategorischen Unterschied, wobei der Computer für mich ein erweitertes Skizzenbuch ist. Er ermöglicht Farbkonstellationen zu entwerfen und zu studieren, die mit herkömmlichen Mitteln wie Bleistift, Papier und Farbe fast nicht erreichbar sind. Er beschleunigt das Entwurfsverfahren und multipliziert die Möglichkeiten der Auswahl. Außerdem hat eine Skizze, die ich mit der Hand koloriere einen anderen Charakter als eine Computerzeichnung. Aber darin liegt ja auch wieder eine spezielle Spannung. In der Ausführung der Arbeiten ist es nicht so, dass da nur eine Farbschicht gelegt wird, sondern es sind viele Farbschichten und im Grunde genommen ist das Übereinanderlegen von Farbschichten ein "restaurativer" Prozess, denn ich "restauriere" - das ist ein Ausdruck von Ad Reinhardt - im Zuge der Ausführung die Farbe zu ihrem eigenen und typischen Charakter, der in der Bildschirmfarbe natürlich nicht vorhanden ist. Dort findet sich maximal ein Orientierungswert für den stofflichen Charakter.
C.M.:
Könnte man sagen, dass Du verschiedene Konstellationen durchdeklinierst, um zu untersuchen, welche erfolgsversprechend in Hinblick auf eine in der Malerei zu erreichende Präzisierung des Farbcharakters sind? Aber es ist nicht so, dass man in Anlehnung an eine alte Debatte sagen kann: früher ahmte die Kunst die Natur nach und jetzt ahmt sie eine "zweite Natur" nach, die durch den Computer entsteht?
I.N.:
Nein, das ist überhaupt nicht der Fall. Der Computer ermöglicht, latente Bildstrukturen relativ schnell durchzuspielen und zu konkretisieren. Wenn man die Differenz zwischen Bildschirm- und Stoffarbe kennt, ist der Prozess der Ausführung tatsächlich ein ganz eigener, innovativer Schritt. Vielleicht kann ich da noch etwas in Bezug auf Struktur und die Farbe hinzufügen: es gibt einen sehr guten Ausdruck von Frank Stella, nämlich, dass er gelernt habe, nicht mit der Farbe zu zeichnen, wie manche seiner Zeitgenossen, sondern Farbe als Farbe zu denken. Er gibt der Farbe keine Kontur vor, sondern lässt sie durch den Farbauftrag entstehen, indem er zwischen den gemalten Streifen Grenzflächen als Kanäle bildet. Das Zeichnen und nachfolgende Kolorieren - wie ich es ja auch teilweise früher in meinen Entwürfen tat - fällt im Computer weg, denn ich bilde Farbflächen und Farbbahnen aus der Bildidee und Farbe und Zeichnung erscheinen ungetrennt differenziert.
C.M.:
Wenn man überlegt, warum die Farbe gegenüber der Zeichnung tendenziell verdächtig gewesen ist, warum überhaupt diese Unterprivilegiertheit der Farbe entstanden ist, so liegt das sicherlich daran, dass die abendländische Kultur dahin tendiert zu sagen: Farbe ist ein Phänomen, das an die Sinnlichkeit, die Sinne appelliert und die Sinne sind trügerisch, sie haben "appetitus" und sind deswegen leicht zu verführen. Die Philosophie hat ja grundsätzlich ein Misstrauen gegenüber sinnlicher Erfahrung und dem Individuellen in dieser Erfahrung, eben dem nicht "Universalisierbaren"; denn es wurde natürlich die Idee gesucht, die als Abstraktum das "Wesen der Dinge" enthalte.Die Frage nach der Farbe ist akzidentiell, beiläufig.
I.N.:
Es ist richtig, dass die abendländische Tradition in diesem Gegensatz von Substanz und Akzidenz denkt und die Farbe ist dann immer Akzidenz: Eigenschaft am Ding, an der Substanz. Sie erscheint zwar an der Dinglichkeit, spielt aber eine untergeordnete Rolle - und in der gegenständlichen Malerei ist natürlich die Farbe immer am Gegenstand - die abstrakte Malerei ist der erste wirkliche Schritt, dieses traditionelle Verhältnis von Substanz und Akzidenz zu sprengen und das, was vorher Eigenschaft am Ding war, in ein anderes Licht zu stellen. Dieser Schritt setzt sich überhaupt im zwanzigsten Jahrhundert fort und ermöglicht die Entwicklung der Farbe in eine ganz andere Richtung, welche die alte, traditionelle Malerei noch nicht kannte. Die Farbe wird eine Angelegenheit, mit der man sich jetzt so beschäftigt, wie man sich früher mit Gegenständen beschäftigt hat. Seither wird sie gegenständlich gedacht.
C.M.:
Immer wieder werden in diesem Zusammenhang Delacroix und Courbet erwähnt, denn bei beiden Malern gibt es in den Bildern Zonen, die nicht auf einen Gegenstand applizierbar sind, auf denen die Farbe keinen Gegenstand als Träger mehr hat. Man sieht nicht mehr, wohin die Farbe gehört.
I.N.:
Die Farbe wird entakzidentialisiert und dadurch kann sie ein primäres Thema werden. Auch bei Cezanne beispielsweise - gerade Cezanne beschäftigt sich völlig antiakzidentiell mit der Farbe, wobei natürlich seine Methode ganz spezifisch ist. Er hat ja auch ein Übersetzungsproblem, könnte man sagen - es gibt einen sehr schönen Ausdruck von Cezanne, nämlich, dass er in die Natur schaut und der Empfindung, der Sensation nach den Eindruck unmittelbar, in fast unkontrollierten rhythmischen Bewegungen auf die Leinwand übersetzt. Aus diesen rhythmischen Bewegungen bildet sich die Form. Da wird die Farbe auch gegenständlich gedacht und nicht akzidentiell vorgestellt.
C.M.:
In diesem Zusammenhang würde mich interessieren wie Du zu den "Bildideen" kommst?
I.N.:
Die Bildideen an sich sind spontan entstehende "Bilder im Kopf", eine unmittelbare geistige Präsenz von Bildern. Natürlich ist das nicht so, dass sie aus heiterem Himmel entstehen, sondern ihre Entstehung setzt natürlich voraus,dass ich mich länger mit verschiedenen Bildproblemen beschäftige und ich nach einer Lösung suche, indem ich immer wieder neue Skizzen anfertige, Konfigurationen teste, Varianten durchspiele. Dieser Prozess geht der Bildidee im Grunde genommen voraus, aber die Bildidee selber ist ein spontanes intellektuelles Phänomen und entsteht augenblicklich. Es kann sein, dass eine reale Situation eine "Gelegenheitsursache", ein auslösendes Moment für die Entstehung einer Bildidee ist, die sich dann selbstständig organisiert. Die Bildidee ist ein organisiertes Gefüge, das auf einmal das Ganze des Bildes präsentiert. Und jetzt zeichne ich diese Bildidee in den Computer. Der nachfolgende Prozess wird von mir der Testlauf der Bildidee genannt. Dabei beginne ich Farben zu nuancieren, abzuwandeln, um zu sehen, ob noch eine Steigerung dieser Bildidee möglich ist oder ob diese Bildidee abfällt bzw. sich in eine neue modifiziert, was auch geschieht. Aber eine sehr starke Bildidee hält sich bis zum Schluss. Das ist mir immer wieder aufgefallen.
C.M.:
Welche Bedeutung nimmt für dich die Realisierung der Bildidee ein? Für einen Konzeptkünstler wie Lawrence Weiner wäre die Ausführung kein unbedingt wesentliches Kriterium. Aber bei Dir ist es schon so, dass die Idee auch ausgeführt werden muss?
I.N.:
Ohne Realisierung der Bildidee ist das Bild für mich nicht wirklich Bild. Das Bild wird erst real, wenn die Idee sich sozusagen verwirklicht hat. Im Grunde genommen ist es natürlich eine uralte philosophische Diskussion, die sogenannte Universalienproblematik, die seit der antiken Philosophie unter "Platonismus, Aristotelismus" und "Nominalismus" diskutiert wurde. Ist die Universalie oder Idee vor den Dingen, in den Dingen oder nach den Dingen, d.h. bloß im Kopf existent? Als Künstler sind für mich alle drei Positionen relevant. Im gewissem Sinne existiert die Idee vor der Ausführung des Bildes im Kopf, dann im Entwurf, durch die Ausführung des Bildes in der eigentlichen Arbeit und, in der Betrachtung des Bildes. Durch die Ausführung wird die Idee sinnlich manifest. Je besser die Ausführung gelingt, je genauer ich den Prozess der Ausführung kenne, desto "realer" kann die Idee werden und ihre Wirkung entfalten. Ohne Konkretisierung bliebe die Wirkung der Idee auf eine einzelne Person und deren geistigen Akt beschränkt.
C.M.:
Diese drei Positionen berühren ja auch das Verhältnis von Farbe und Sprache.
I.N.:
Die Sprache kann, wenn sie präzise wird, wenn sie begrifflicher wird, auf bestimmte Phänomene gezielter aufmerksam machen und Hinweise auf Zusammenhänge geben. Das leistet Sprache besser als Farbe, weil sie auf einer anderen Ebene steht. Die Sprache ist begrifflicher und abstrakter und ermöglicht auch schnellere Transporte. Auf der anderen Seite spielt Struktur in einem Bild immer eine Rolle. Ein Bild ist ein strukturelles Gefüge, das man vergleichen kann mit einem Satz. Darum verwende ich ja auch für meine Bilder den Ausdruck "Proposition", der "Aussage" bedeutet "Satz" und "Aussage" sind natürlich im weiteren noch zu differenzieren. Die Aussage ist quasi die Bedeutung des Satzes. Ein Bild kann als ein Gefüge betrachtet werden, dessen einzelne Elemente zwar autonom sind - genauso wie ein Wort in einem Satz ja auch etwas Selbstständiges sein kann - aber trotzdem durch den Bau oder das Gefüge zu einer eigenen Aussage werden. Hier gibt es eine vergleichbare Ebene von Sprache und Bild, wobei nur die Art der Auffassung eine andere ist.
C.M.:
Bezeichnenderweise hast Du das Wort "Proposition" für Deine Bilder verwendet, wohl auch, um auf das Verhältnis von Sprache und Bild hinzuweisen, wobei es Dir nicht darum geht, das eine oder das andere zu favorisieren, beziehungsweise auf das eine oder andere zu verzichten.
I.N.:
Das ist fast nicht möglich. Es ist auch interessant, dass durch die Entwicklung des Computers - ja sagen wir - das Arithmetische und Geometrische eine Einheit wird. Das Bildliche und das Sprachliche oder Zeichenhafte wächst im Computer zusammen. Die ganze Chaosforschung ist ja ein Beispiel dafür. Da ist eine Formel, die sich dann optisch präsent macht, die sozusagen anschaubar wird. Also dieser Gegensatz, der ja früher sehr stark und oft betont wurde,dass man zwischen Anschauung und Nicht-Anschauung oder Zeichen differenziert hat - der existiert heute im Grunde genommen nicht mehr auf diese Weise und ich glaube, dass in Zukunft dieser Gegensatz sich weiter aufhebt.
C.M.:
Gut, dass Du den Computer erwähnst, denn es gibt ja Physiker oder Biochemiker, die dazu übergehen, Formeln nicht nur durchzurechnen, sondern auch zu visualisieren uns sich bei Manipulationen durchaus auch an ästhetischen Gesichtspunkten orientieren.
I.N.:
Es gibt wirklich eine Parallele zwischen Kunst und Wissenschaft, weil der Wissenschaftler ja auch ausprobiert, was passiert, wenn er Dinge wegnimmt oder hinzufügt und der Computer das dann ausrechnet und darstellt. Und im Grunde genommen mache ich dasselbe in meinem erweiterten Skizzenbuch, was passiert, wenn ich die Farbnuance etwas verändere?
C.M.:
Es ist interessant sich vorzustellen, dass hinter jeder Farbfläche, die Du am Computer evozierst und testest ein binärer Code steht, der eine Form von Sprache und Grammatik ist. Hinter dem Farbfeld, den das Interface präsentiert, befindet sich eine unglaublich lange Kette von Befehlen.
I.N.:
Da sind eben die unterschiedlichen Ebenen. Die Kette, die dahinter steht, ist die wesentlich abstraktere Ebene, die aber natürlich ermöglicht, dass sich die nächste konkretisiert. Ohne diese Befehle würde das nie zur Ausführung kommen.
C.M.:
Wir haben die Bildidee kurz charakterisiert, dann gibt es den "Testlauf"; kommen wir jetzt direkt zur Malerei - zur Praxis der Bildentstehung.
I.N.:
Also, nachdem die Bildidee einen Testlauf absolviert hat und sich modifiziert und soweit konkretisiert hat, dass die Bildidee überzeugend genug ist, um zu einer Ausführung zu gelangen, dann besteht der nächste Schritt darin, die Ausführung vorzubereiten: ich male auf MDF-Platten, die zu eigenen "Bildkörpern" vom Tischler nach meinen Angaben präpariert werden. "Bildkörper" auch deshalb, weil das Bild für mich auch einen Objektcharakter besitzt und zum anderen dann auch selber einen Schatten zu werfen imstande ist - d.h. ein realer Schatten mit einem "gemalten" Schatten oder einer nuancierten Farbbahn konfrontiert werden kann. In der Ausführung wird dann eine Grundierung gelegt, eine sehr saugfähige Grundierung, wodurch es über viele Schichten hindurch möglich bleibt, dass die Farbe einen matten Charakter behält. Es kommen zirka acht Grundierschichten auf die MDF-Platte, wobei die letzte Grundierschicht gespachtelt wird, um eine möglichst glatte, ebene Oberfläche zu erhalten. Das hat den Grund darin, dass im Verhältnis zu einer Leinwand - die Leinwand hat eine unregelmäßige Oberfläche und streut das Licht - das Licht eben nicht gestreut und geschwächt werden soll, damit die Farbe eine optimale Wirkung entfalten kann. Ich verwende eine glatte, ebene Oberfläche, die ermöglicht, dass auch ganz subtile Farbnuancen noch wahrnehmbar bleiben, während sie bei einer Leinwand fast verschwinden würden. Wenn man das gegenüberstellt, sind die Unterschiede sehr verblüffend. Die Farben entfalten einen ganz anderen Leuchtcharakter.
C.M.:
Diese Technik und Materialien hast Du im Laufe der Zeit als für dich optimale adaptiert?
I.N.:
Ja. Und diese Methode ist wichtig, weil ich mich ja erst im Laufe des Ausführens zur Farbe hinbewege. Es ist entscheidend, dass die Farbe als solche bestehen bleibt und nicht das Medium, wie beispielsweise Öl in den Vordergrund tritt und dann quasi einen "künstlichen Film" über die Farbe legt. Die Farbe solle matt bleiben, um ihren stofflichen Charakter zum Ausdruck bringen zu können. Und bei 20 Farbschichten, wie es bei mir gelegentlich vorkommt, könnten Bilder vollkommen "speckig" werden. Daher habe ich nach Wegen gesucht, dass die Oberfläche matt bleibt und der pigmentale (Pigmentcharakter) Charakter der Farbe vordergründiger wirken kann. Deshalb war auch das Holz mit seinem saugfähigen Charakter mit der speziellen Kreidegrundierung ein ideales Mittel, um dorthin zu kommen.
C.M.:
Die Bilder haben ja ein hohes Maß an Perfektion, allein was die Oberflächengestaltung angeht. Man kommt eigentlich gar nicht sofort auf den Gedanken, dass die Bilder mit dem Pinsel gemalt sind.
I.N.:
Es ist für mich wichtig, das Bild mit dem Pinsel auszuführen, um den haptischen Qualitäten der Farbe ebenso einen Ausdruck zu verleihen. Dieses Haptische, das ja letzten Endes auch den spürbaren Farbkörper ausmacht, entsteht nur, wenn man mit dem Pinsel und nicht etwa mit dem Airbrush oder der Rolle arbeitet. Deshalb bleibt der Pinsel als Instrument bestehen. Er tritt allerdings für den Betrachter in den Hintergrund, da ab einer gewissen Distanz zum Bild - es genügen schon ein zwei Meter - die Pinselstruktur kaum noch wahrnehmbar ist. Sie macht aber eine feine Unregelmäßigkeit aus, die trotz dieser scheinbar homogenen Farboberfläche ihre Wirkung entfalten kann. Die Farbe bleibt in gewissem Sinne unruhig, lebendig. Und dieses Unruhige und Lebendige macht einen eigenen Reiz der Bilder aus, was der Idee der Farbnuance natürlich auch entspricht. Die Farbnuance nuanciert sich in sich nochmals.
C.M.:
Auf den ersten Blick wirken diese Bilder ja ganz regelhaft, wie eine Formel. Sie bilden einen "visuellen Nukleus" und scheinen eine Art "Gleichung" zu formulieren und die orthogonalen Setzungen verstärken den Eindruck von Perfektion nochmals. Trotzdem stellen diese Linien Unregelmäßigkeiten dar, während die Moderne tendenziell auch immer versucht hat, Unregelmäßigkeiten zu eliminieren.
I.N.:
Das ist ja der Idealismus der Moderne. Der Idealismus der Moderne versucht zwar auf die Grundelemente zu stoßen, aber abstrahiert quasi von den realen Gegebenheiten. Im Grunde genommen ist es ja so, dass in der Realität alles abweicht von der idealen Norm. Es gibt also nicht diese eine exakte Linie. Die Mannigfaltigkeit der Welt beruht auf diesen Abweichungen und ermöglicht die Entwicklungen; wären diese Abweichungen nicht da, gäbe es praktisch keine Entwicklung. Um diese Entwicklung immer wieder voran zu treiben, immer wieder neue Anstöße für Entwicklungen zu finden, ist die Abweichung ein bewusstes Thema in meiner Malerei.
C.M.:
Da nimmst Du ja auch wieder eine ganz andere Haltung ein, denn es gibt ja genügend Kollegen und Kolleginnen, die eine Proposition formuliert haben, um bewusst einen Endpunkt zu markieren. Nach dem Motto, wir haben die Grundformel gefunden und somit sind die weiteren Forschungen sinnlos. Hören wir auf damit oder wechseln wir in ein anderes Metier.
I.N.:
Und ich drehe die Sache um und sage: das ist der Anfangspunkt! Die Entwicklung dorthin ist zwar entscheidend, letzten Endes komme ich nicht ans Ende, sondern an den Anfang. Jetzt beginnt erst die "eigentliche" Entwicklung. Und die Moderne oder das zwanzigste Jahrhundert ist der Schritt, um diese Elemente zu konzentrieren oder zu verdichten und in dem Moment, wo man sie einigermaßen erreicht hat, beginnt eigentlich erst die Entwicklung.