So wie der Ballonfahrer den Ballast der Materie - den beschwerenden Sand - zurücklässt, um der Schwerkraft zu entgehen und sich der Weite des Raumes zu ergeben, so scheint Fred Sandback die Skulptur aus den Fesseln der Materie zu lösen, um das Wesen des Raumes in den Blick zu nehmen. Verschwindend gering ist das Maß der Materie, das die Suggestionskraft erzeugt, die seinen Arbeiten wie im Fluge zufällt. Auf der Luftlinie, die immer die Route der Imagination ist, sind gefärbte Fäden aus Wolle durch den Raum gespannt oder als Zeichnung aus "wollenem Graphit" an der Wand placiert, Lineaturen, denen mit Recht der Begriff "Skulptur" eingeräumt wird.
Linientreu navigiert Sandbacks Kunst auf der Bahn asketischer Konstruktion. Nicht auf ausufernde Fülle, sondern auf Versammlung und Verdichtung durch den focusierenden Blick des Künstlers zielt sein Interesse. Der Argumentation des Malers Conti aus Lessings "Emilia Galotti" folgend, der das Malen mit dem Auge als Utopie entwirft und das Sehen des Künstlers als zentrale Maxime künstlerischer Aktion proklamiert, tritt in Sandbacks Arbeit die Tätigkeit der Hände in den Hintergrund, scheint die praktische Ausführung durch jene nachvollziehbar. Das Sehen des Raumes mit dem Auge des Künstlers wird so ins Zentrum des Kunstwerks gezogen - das Sehen wird zum Sujet, das die Skulpturen Sandbacks organisieren. Doch das Sehen ist eine unsichtbare Kraft. Die Skulpturen Sandbacks scheinen sich dem Blick zu entziehen, den sie im Gegenzug zu schärfen wissen. Der Wahrnehmungsvorgang selbst wird zum Erlebnis, das sie auslösen.
Gespannt auf jenen Punkt, dem sie entstammen, auf das Auge, materialisiert sich in diesen filigranen Lineaturen der Blick des Künstlers, der dem Sinn des Sehens auf der Spur ist.
Es gibt die Photographie einer Skulptur, die Sandback 1983 in einem Raum des Musée des Beaux-Arts in Dijon realisiert hat. Im harten Gegenlicht, das die durch ein Fenster einfallenden Sonnenstrahlen spenden, wird ein Teil jener Linie, die Sandback über die unterschiedlichen Niveaus des Raumes verbindend gespannt hat, unsichtbar, verdunstet gleichsam vor der photographischen Einäugigkeit, die hier ihren Auftritt hat. Das Licht verlöscht das Sichtbare, durchbricht die Einheit der Geraden, radiert in der Blendung einen Teil der Linie aus, die den Raum diagonal durcheilt.
An der Grenze zwischen Materialität und Immaterialität markiert diese Bruchstelle jenen Punkt, den Sandbacks Skulpturen anvisieren - den Nullpunkt de Skulptur, die Skulptur ohne Volumen. Denn nicht die Verkörperung, das Besitzergreifen des Raumes im flächigen Abgrenzen von Innen und Außen ist es, was sie vortragen. Sie zielen vielmehr auf jenen Bezirk, der den Raum erste eröffnet, auf die Leere des Raumes, die sie in der Lineatur be-deuten. Der terra incognita des leeren Raumes entreißt Sandback jene Bruchstücke, die seine Skulpturen markieren. Der leere Raum implodiert und entbirgt sein Inneres auf der Spur der Linie. Scheinbar ohne Anfang und Ende schießen die Linien, die Sandback im Raum organisiert aus dem Boden und verschwinden ohne Spuren ihres Auftreffens in der Wand, die den weiteren Verlauf dem Auge des Betrachters undurchsichtig lässt - gleichsam wie Fragmente eines unsichtbaren Gewebes, das den Raum durchwirkt, ähnlich jenem Netzt der Bedeutungen, das in einer Choreographie die Tänzer in immer neuen Figuren in den Raum zeichnen und das in seiner Vielfalt nur in der Vorstellung des Betrachters aufgehoben ist.
Die Linie ist der schmale Grat, auf dem Sandback den Raum denkt und auf dem er dem Volumen, dem Körperhaften der Skulptur entgeht, ohne die Skulptur als Vokabel seiner künstlerischen Artikulation aufzugeben. Am Beginn dieser Auseinandersetzung steht in den frühen Arbeiten Sandbacks, die mit filigranen Gummischnüren einen Körper beschreiben, seinen Umriß im Raum nachzeichnen, ohne jedoch sein Inneres durch ummantelnde Flächen im Dunkel einzuschließen. Das Volumen dieser Figuren ist visuell erfassbar, bleibt jedoch eine imaginierte Größe. Denn die Skulptur ist offen und zeigt wie im Aufriß oder in der Planskizze einen denkbaren Körper im Raum, der vorstellbar aber nicht greifbar ist.
Die räumliche Figuration erscheint bei den Skulptruen, die ganz auf die Linie redziert sind, nur noch als Schattenbild. Der ständig sich wandelnde Schattenriß, den beispielsweise ein zwischen zwei Wänden über Eck gespannter Wollfaden auf die Fläche der Wand wirft, suggeriert zwar einen Körper, doch ist dieser nicht im Material der Skulptur realisiert. In der Immaterialität des Schattens spiegelt sich die verschwindend geringe Materie der Skulptur im Nichts, doubelt sich in der Leere, an deren Grenze die Linie operiert.
Ist in der Nachzeichnung einer räumlichen Figur die Skulptur ganz auf sich selbst bezogen und allein ihre Wirkung vom umgebenden Raum abhängig, so deutet die Linie, die den Raum durchzieht, ohne selbst einen Raum zu beschreiben, auf die gesamte räumliche Situation, die sie in sich konzentriert - den Raum in einen künstlerischen verwandelnd. So wie in der Welt des Theaters der Schauspieler im Magnetfeld der Bühne alle Kräfte in sich zu versammeln hat, der künstlerische Raum durch ihn hindurch sich erst erzeugt, so verdichten die Skulpturen Sandbacks das proaische Auseinander der Punkte des vorgefundenen Raumes in der gespannten Linie, die den Ort der Skulptur fließend beschreibt und den Raum als freien Bezirk eröffnet, in den Bedeutung mit dem Sinn des Auges sich einzeichnen kann.
Diese Öffnung entsteht durch eine Art Auflösung des Raumes, die Sandbacks Skulpturen suggerieren. So unwesentlich ihr materieller Einsatz auch sein mag, sie nagen am festen Gefüge, an der Einheit des Raumes, an den rechten Winkeln, sie setzen die Fläche der Wand unter Spannung, ja scheinen sie in der Schwebe zu halten. Doch all dies geschieht im Passivum - in der Form des Sehens. Nie wird der Raum attackiert. Sandbacks Skulpturen beatmen den Raum, bringen zum Sprechen, was immer schon in ihm schwieg. Die Lineaturen, deren Einheit selbst durch die Farbsprünge, die sie strukturieren, gebrochen ist - Broken Lines durch den Einsatz der Farbe, des gebrochenen Lichts - versetzen die unterschiedlichen Tonarten des Raumes in eine Schwingung, die die Versammlung der Sinne des Betrachters herausfordert. Gleichsam wie in einem Tempel ist der Betrachter von den Skulpturen umstellt, umfangen vom künstlerischen Raum, den die Linien aus dem Nichts erzeugen. Ein Ort meditativer Ruhe entsteht, der dem Auge huldigt, der Kraft des Sehens, einer anderen Art der Erfahrung, in der die Sinne des Maß der Zeit bestimmen.
Während die Skulptur, die einen Körper umgrenzt und nach außen sich wendet, ihr Geheimnis in ihrem Inneren einschließt, bergen Sandbacks Skulpturen ihr Geheimnis außer sich, im Zwischenraum, in ihrer gegenseitigen Beleuchtung, in der Schwingung, die sie dem Raum einhauchen. Sie sind gespannt auf einen Metaraum, auf die Utopie eines poetischen Bezirks, "in dem Leben und Kunst sich vereinen", dessen Vision exemplarisch in jener schon angesprochenen Photographie zum Vorschein kommt - jenseits des Fensters. Im Gegenlicht.