Galerie Hubert Winter

Peter Weibel
überproduktion: nur paranoiker: überleben
21. May – 3. July 1999
All this the world well knowes yet none knowes well
To shun the heaven that leads men to this hell
Shakespeare, 129th sonett

Die Dramatiker von Aischylos bis Shakespeare legen uns seit Jahrtausenden nahe, daß die zentrale Struktur der Gesellschaft die Intrige sei.

Die technologischen und sozioökonomischen Veränderungen der Neuzeit legen uns die Vermutung nahe, daß die gesellschaftliche Struktur der kommenden Jahrhunderte die PARANOIA sei. Im Informationszeitalter ersetzt das Modell der PARANOIA das Modell der Intrige. Diese Vermutung wird auch von Peter Weibel nicht als psychologisches Drama inszeniert, sondern auf der Ebene der Zeichen selbst. In der Eigenwelt der Zeichen und nicht in der Eigenwelt der Menschen realisiert er die Struktur der PARANOIA. Im Gegensatz zur kritisch-paranoischen Methode von Dalí, welche anthropomorph und irrational vorging, zeigt Peter Weibel die PARANOIA nicht als Eigenschaft des Menschen sondern als Eigenschaft der Welt. die PARANOIA wird depsychologisiert, desubjektiviert und deanthropomorphisiert. Ein geschlossenes Zeichenfeld, das gleichzeitig unstrukturiert ist, bietet zwar alle Instanzen des Sinns auf, nämlich Buchstabenfelder und Zeichenketten als Repräsentanten der Rationalität, aber es bietet dennoch nicht die Möglichkeit, sich in diesem Zeichenfeld zu orientieren und zu stabilisieren. Das Auge kann sich an nichts festhalten. so entsteht eine stetige Instabilität; ärger als in einer Gummizelle ist es der weiße, mit Zeichen besetzte Raum, der den Terror der Ratio entbirgt.

Die Überproduktion der Zeichen, die nicht nur intellektuell sondern auch sensorisch bis zur Grenze des Schocks Gewalt ausübt, steht für den gewaltigen Informationsraum der Gegenwart. Gleichzeitig verhandelt dieser Zeichenraum auch über die neuen Produktionsweisen der Informationsgesellschaft. Die Logistik der Informationstechnologie stützt globale ÜBERPRODUKTION. Wer insoferne über Produktion im Spätkapitalismus nachdenkt, erkennt, daß der Motor der Kapitalakkumulation, nämlich die Produktion, ins schwanken gerät. Im Zeitalter der Informationsgesellschaft sind nicht der primäre Sektor der Produktion und die materielle Arbeit, sondern die sekundären und tertiären Sektoren der Finanz-, Vertriebs- und Dienstleistungen der Kommunikations - und Informations-technologien zunehmend die zentralen Agenten der gesellschaftlichen Dynamik.

In dieser beinahe immateriellen Produktionsweise, die vom Geld-und Zeichenverkehr und nicht vom Güterverkehr geprägt ist, ÜBERLEBEN nur PARANOIKER, wie es der Titel der Biographie von Andy Grove, Chef der Firma intel treffend zur Erkenntnis bringt.

Der Zusammenhang von ÜBERPRODUKTION und ÜBERLEBEN ist ein Dogma einer darwinistischen Theorie der Gesellschaft, deren geheimer Kern allerdings eine Ökonomie der Knappheit ist. Dort wo die Ressourcen knapp seien sei das Leben gefährdet, also garantiere nur ÜBERPRODUKTION ein ÜBERLEBEN. Diese darwinistische Verkleidung des Spätkapitalismus übertreibt Peter Weibel in seiner Installation aus 15.000 Einzelzeichen, die aus Computertastaturen abmontiert und an den Wänden der Galerie befestigt werden. Er zeigt durch die ÜBERPRODUKTION der Zeichen ein surplus- Modell, das für eine Nachknappheits- bzw Nichtknappheits-Ökonomie steht.

Er hat mit Absicht die Tasten der Computerinterfaces gewählt, weil der Computer das zentrale Werkzeug der Informationsgesellschaft ist. In der Dekonstruktion dieses Werkzeuges, wodurch die Buchstabentasten ins Unendliche katapultiert werden, weist er einerseits auf den unendlichen Speicher des globalen Internets hin, gleichzeitig aber auch auf die Gefahren des Verlustes in dieser Unendlichkeit. Jede Textur und jeder Text verflüchtigen sich. Ein vertikaler Malstrom im Schwebezustand, entkettete und entfesselte Zeichenketten an der Wand, erzeugt Panik und PARANOIA. Im zerlegen der Computertastatur und ihrer explosionsartigen Verteilung werden auch kritisch die Informationsexplosion und andere Dimensionen der Informationsgesellschaft dargestellt. Informationsstaub, das Rauschen des Alphabets bilden gleichsam die kosmischen Hintergrundfrequenzen der neuen Informationsgesellschaft. Wie nach dem Urknall fliehen die Zeichen in einem expandierenden Universum. In diesen lettristischen Gaswolken findet der Mensch keinen Stillstand und keinen Sinn. Gerade dadurch wird die Suche nach Sinn und das Nachdenken über das Regelwerk, das dieser Expansion zugrundeliegt, provoziert.

Karl Marks

  • Review: DER STANDARD, 06.09.1999 (JPG)