Galerie Hubert Winter

Joel Fisher
Joel Fisher — in: Galerie Raymond Bollag, Zurich/Barbara Gross Galerie, Munich. 1991

Zwischen dem, was wir in das Wahrgenommene einbringen, und dem Wahrge­nommenen selbst liegt ein freier Raum. Meine Arbeit füllt diesen Raum.

Woher kommen die Ideen für Ihre Arbeiten? Von Ihren Zeichnungen?

Die Zeichnungen fallen mir gewissermaßen von außen zu. Später beschwören die Zeichnungen die Skulpturen herauf. Man kann jedoch nicht direkt sagen, daß die Zeichnungen die Ideen für die Skulpturen sind.

Aber Ideen spielen doch eine Rolle?

Am Ende spielen Ideen sicherlich eine Rolle. Mich interessiert allerdings mehr der Kontext, der in den Arbeiten geschaffen wird, um diese Ideen sichtbar zu machen. Der Ursprung von Objekten fasziniert mich – sowohl der wirkliche als auch der erdichtete Ursprung. Es ist faszinierend, über Ursprünge und Anfänge zu spekulieren, da unser tatsächliches Wissen so begrenzt ist. Wir wissen zum Bei­spiel fast gar nichts über unseren eigenen Ursprung als Menschen. Beginnt unser Leben bei unserer Geburt oder in dem Moment, wo das Ei befruchtet wird? Oder liegt der eigentliche Anfang weiter in der Vergangenheit, in dem ersten Wunsch der Mutter nach einem Kind? Oder beginnt unser eigentliches Leben erst dann, wenn wir unsere ersten selbständigen Schritte in die Welt unternehmen? Viel­leicht spielen weder unser Alter noch die Selbständigkeit, die wir erreicht haben, die entscheidende Rolle, und wir sind erst dann selbständige Individuen, wenn wir unsere Eltern verloren haben. Mit diesem Verlust ändert sich etwas, er birgt eine größere Unabhängigkeit und einen einsamen, unbekannten Anfang.

Ich versuche also, Ursprung und Idee zu unterscheiden, da sie in meiner Arbeit verschieden sind. Wir sind es gewohnt, eine bestimmte Reihenfolge im künstleri­schen Schaffen zu erwarten: Dem Künstler fliegt von irgendwoher eine Idee zu (etwas, das er gelesen oder gesehen hat, ein Traum, eine Fernsehsendung) und er entwickelt sie dann zu einer künstlerischen Aussage. Im Gegensatz dazu entste­hen meine Arbeiten nicht aus etwas, sondern nähern sich diesem Etwas an. Die Bezugspunkte entstehen durch Ähnlichkeit. Die Ideen in den oder über die Arbei­ten werden erst später in diese eingebracht, nachdem die Skulptur oder das Objekt bereits existiert. In diesem Sinne könnte man sagen, daß sie das Werk des Betrach­ters sind. Die Tatsache, daß ich der Autor dieser Arbeiten bin, stellt kein besonde­res Privileg dar. Ich bin lediglich der erste Rezipient, der erste »Leser« meiner Werke. Mir gefallt die Idee, daß ein guter Leser den Text schafft: eine Situation, wo der Empfangende gleichzeitig der Gebende ist. Ich glaube, der Begriff »Lesen« ist im Hinblick auf Skulpturen absolut angebracht, besonders dann, wenn er auf ein klares Erfassen hinweist. Eine Skulptur zu lesen ist in mancher Hinsicht natürlicher als einen Text zu lesen, da eine Skulptur mehr ist als ein visu­eller Code.

Warum? Weil sie nicht nur visuelle Informationen enthält?

Sie bietet sehr viel mehr als visuelle Informationen. In meiner Arbeit als Bildhauer wurde mir klar, daß unser Tastsinn schärfer ist als unser Auge. Wir können Dinge ertasten, die wir mit bloßem Auge nicht sehen können – zum Beispiel minimale Unebenheiten. Die meisten meiner Erkenntnisse gewinne ich durch meine Arbeit – und sie werden fast immer durch zufällige Erfahrungen bestätigt. Im Ver­lauf einiger Profilstudien setzte ich mich beispielsweise mit subtilen Unterschie­den in Teeschalen und anderen Keramikobjekten auseinander. Ich bemerkte, daß einige Schalen sich erst dann als etwas Besonderes zu erkennen gaben, als ich sie in die Hand nahm. Andere Schalen sahen zwar makellos aus, fühlten sich aber nicht richtig an. Wenn man eine perfekt ausgewogene Teeschale in der Hand hält, erfährt der Körper ein Gefühl, als sei etwas an seinen richtigen Platz geglitten. Die Zeit scheint für einen Moment stillzustehen. Skulpturen sprechen in vieler Hinsicht unseren Köper ebenso an wie unser Sehvermögen.

Es scheint merkwürdig, daß Ihre Arbeiten so stark durch den Tastsinn bestimmt sind. Am Anfang Ihres Arbeitsprozesses steht die Zeichnung und Zeichnungen können, ja dürfen nicht haptisch erfaßt werden.

In meiner Vorstellung sind die Zeichnungen auf einer Art Reise. Vom ersten Moment ihrer Existenz an beginnen sie über sich selbst und über das Material, aus dem sie bestehen, hinauszugehen. Ihre ursprüngliche Zerbrechlichkeit, die Tat­sache, daß eine einfache Berührung sie zerstören könnte, ihre Position als Objekte, die nicht berührt werden können, stimmen durchaus mit ihrem eigentli­chen Wesen überein: denn anfangs sind die Zeichnungen wie Schatten von Objek­ten, die noch nicht existieren. Und gleichzeitig sind sie am Anfang – am Anfang dieses Anfangs – vollkommen frei von Beziehungen und Zusammenhängen. Und selbst später, wenn sie anscheinend so viele Bezugspunkte aufgenommen haben, bewahren sie immer noch etwas von dieser ursprünglichen Freiheit und Leere.

Ihre Reise führt folglich von der Leere zur Bedeutungsfülle?

Das ist eine mögliche Reise. Außerdem findet eine Entwicklung von Zerbrech­lichkeit zu Schwere, vom Gesichts- zum Tastsinn statt. Wegen der winzigen Fasern des Papiers werden die Zeichnungen erst in hellem Licht sichtbar. Sie sind nur durch das Auge erfaßbar. Objekte sind anders, durch unseren Tastsinn können wir auch in der Dunkelheit etwas über sie erfahren. Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, daß Skulpturen über unsere konventionellen drei Dimensionen hinausgehen.

Wird uns nicht beigebracht, daß wir Kunstwerke nicht anfassen dürfen?

Kunstwerke sind nur ein Beispiel, aber wir bewegen uns immer mehr auf ein gene­relles Anfaß- und Berührungsverbot hin. Verbote, die in bestimmten Fällen wich­tig sind, werden zum Problem, wenn sie ausgeweitet und verallgemeinert werden. Unsere Zeit erklärt immer mehr Dinge für unberührbar. Bei einigen Objekten (und Teeschalen sind ein gutes Beispiel) macht die Berührung einen so bedeuten­den Teil der Erfahrung aus, daß sie ohne Berührung »unsichtbar« bleiben. Am Ende werden wir uns so sehr an solche Berührungsverbote gewöhnen, daß wir sie als Tabu verinnerlichen, und das Visuelle zum einzigen Kriterium wird.

Wir beschneiden unsere Möglichkeiten, wenn wir nach ausschließlich visuellen Maßstäben urteilen. Es gibt schöne Menschen, deren Identität nur für das Auge (oder die Kamera) Wirklichkeit erlangt, und die Welt, die wir uns geschaffen haben, ermutigt dies. Wenn wir durch Betasten urteilen würden, hätten wir völlig andere Normen. Wie können wir uns darauf beschränken, komplexe Entschei­dungen allein nach Maßgabe unserer Augen zu fällen?

Die taktile Welt ist ein zweites, souveränes Reich mit eigenen Normen. Sie ist unsere erste Ahnung des Unsichtbaren, der Bedeutungen, die vom Auge unabhän­gig sind.

Wie wirkt sich Ihr Interesse am Tastsinn auf Ihre Arbeit aus – nimmt es unmittelbar Einfluß auf Ihre Vorstellungswelt? Beeinflußt es das visuelle Bild?

Ich bin fasziniert von der Möglichkeit, Arbeiten mit doppelten oder parallelen Normen zu schaffen, das heißt, Skulpturen oder Objekte, die in zwei separaten Welten mit separaten Grundmaßstäben existieren. Diese Grundmaßstäbe könn­ten der Tast- und der Gesichtssinn oder auch andere Koordinaten sein.

Soweit ich weiß, gibt es kein präzises taktiles Gegenstück zu einem Bild – nichts, das sich mit visuellen Darstellungen vergleichen ließe, in denen wir das Sujet ver­kleinern und seine zeitliche Komponente eliminieren können. Berührung erfor­dert Zeit. Sehen bedeutet Zusammenfassen. Wir können entfernte Dinge nicht anfassen, und da wir nur eine sehr begrenzte Zahl von Objekten gleichzeitig berühren können, ist eine natürliche Konzentration vorgegeben. Es gibt weniger störende Einwirkungen und daher ist unser Erlebnis ganzheitlicher. Dadurch ent­steht ein Raum, der sich der Vorstellungskraft öffnet, anstatt unmittelbar auf sie einzuwirken. Dieser Raum ändert jedoch merkwürdigerweise seine Proportionen – unter der Berührung dehnen sich manche Dinge aus, während andere sich zusammenziehen.

Wie kann ich diesen Gedanken in meiner Arbeit verwenden? Die Tatsache, daß Skulpturen auch durch den Tastsinn erfahren werden können, bedeutet, daß eine Skulptur verschiedene Bedeutungsebenen haben kann – Informationen, die durch das Auge oder den Tastsinn erfaßbar sind. Das simple Wissen um den Tast­sinn führt dazu, daß wir die Dinge anders ansehen und anpacken. Es kann uns in bestimmten Bereichen anspruchsvoller und in anderen Bereichen großzügiger machen. Was mich jedoch am meisten fasziniert und erstaunt, sind die absolute Schönheit, die der Tastsinn in sich birgt, und die Möglichkeit, durch diese Erkenntnis das Erlebnis reiner Freude in der Welt zu erweitern.

Translated by Jürgen Riehle